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Covid-19: Unvollständige Daten sind kein ausreichender Grund, um abzuwarten

Der Mediziner John Ioannidis kritisiert, dass wir bezüglich Covid-19 Entscheide träfen, ohne zuverlässige Daten zu haben. Doch die Schlüsse, die er daraus zieht, sind noch unzuverlässiger, wie die Patientenschützerin Hilda Bastian aufzeigt.

Wichtig: Reatch trägt unter bit.ly/reatchCOVID19 regelmässig aktualisierte Informationen zur Covid-19-Pandemie zusammen.

Der nachfolgende Artikel ist am 18. März 2020 auf Englisch unter dem Titel «A rebuttal to a ‹A fiasco in the making›» erschienen.

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John Ioannidis' Kommentar «A fiasco in the making» in «Stat News» sowie die Reaktionen darauf haben mir keine Ruhe gelassen. Meines Erachtens gibt es fünf Hauptargumente, auf denen Ioannidis seinen Text aufbaut. Ich werde auf jedes eingehen und dann auf die Frage, was wir als Gesellschaft daraus schliessen können.

Argument 1

«Um derart einschneidende Massnahmen [im Kampf gegen Covid-19] zu treffen, braucht es bessere Entscheidungsgrundlagen in Form von Daten. Gleichzeitig sollten die Auswirkungen der getroffenen Massnahmen genauer beobachtet und evaluiert werden.»

Dies ist eine Seite der evidenzbasierten Medizin, die ärgerlich ist: Als ob wir im Fall von Covid-19 den Luxus hätten, nicht zu handeln, bis eindeutige Daten vorliegen. Nichts zu tun bedeutet nämlich durchaus auch etwas zu tun: Es bedeutet, keine Massnahmen zu ergreifen, die das Gesundheitswesen und das öffentlichen Leben betreffen. Massnahmen, die nach der Bilanz dessen, was wir bis heute wissen, viele Leben retten könnten – unter anderem im Gesundheitswesen. Zudem gibt es auch keine eindeutigen Hinweise darauf, dass Nichts tun das Richtige wäre.

Es spricht nichts dagegen, dass die Auswirkungen der getroffenen Massnahmen erfasst und ausgewertet werden sollten. Dies ist aber kein Argument dafür, solche Präventionsmassnahmen zu unterlassen. Anstrengungen in diese Richtung sollten wo nötig unternommen werden. Gut möglich auch, dass wir in den nächsten zwei Wochen in diesem Bereich so oder so viel dazulernen werden.

Argument 2

«Extremes ‹Social Distancing› und ‹Lockdowns› können vielleicht für eine Weile erträglich sein. [...] Wie lange aber sollten solche Massnahmen beibehalten werden, wenn die Pandemie weltweit andauert? Wie können die politischen Entscheidungsträger erkennen, ob sie damit mehr Gutes als Schlechtes tun?»

Es gibt keine klare Regel dafür, wann der ideale Zeitpunkt dafür ist, die extremen Präventionsmassnahmen wieder aufzuheben. Genauso wenig besteht Gewissheit darüber, wann und aus welchen Gründen sie zu ergreifen sind (siehe dazu diese Review aus Australien vom vergangenen Jahr zu ‹Social Distancing› im Falle einer pandemischen Grippewelle). Wir sollten uns gerade jetzt speziell darum bemühen, Daten zu sammeln, um solche offenen Fragen künftig besser beantworten zu können. Die «Cochrane Collaboration» sicherte beispielsweise auf Twitter zu, eine eindeutig veraltete Review zur Eindämmung von Virenverbreitung zu aktualisieren. Und das «Oxford Centre für evidenzbasierte Medizin» trägt relevante Informationen zum Covid-19-Ausbruch und der Wirksamkeit der getroffenen Massnahmen zusammen.

Es ist also keineswegs so, dass wir zuerst eine idealen Datengrundlage haben müssen, um Entscheidungen treffen zu können. Der Punkt, den Ioannidis hier macht, ist nicht auf Evidenz gestützt: Es ist eine ideologische Position.

Argument 3

«Die bisher erfassten Daten darüber, wie viele Menschen infiziert sind und wie sich die Epidemie entwickelt, sind völlig unzuverlässig.»

Das ist falsch. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen zurzeit infiziert sind, aber die Daten sind nicht überall «völlig unzuverlässig»: Für unterschiedliche Schätzungen gibt es unterschiedliche Unsicherheiten. Klar, wir kennen die genaue Todesfallrate nicht, aber sie wird auch nicht überall gleich hoch sein. Regionale Unterschiede wie die Kapazität des Gesundheitssystems und Antibiotikaresistenzen bei sekundären Lungenentzündungen spielen beispielsweise eine Rolle. Das schlimmste und das beste Szenario können also weit auseinander liegen – doch dieser Umstand allein gibt dem «Best-Case-Szenario» nicht mehr Gewicht als dem «Worst-Case».

Ich stimme Ioannidis zu, dass gewisse Unsicherheiten in den USA besonders hoch sind. Aber zum Glück für uns alle – auch für die in den USA lebenden Menschen – ist das keine unveränderliche Tatsache. Die Anzahl der Todesfälle aufgrund von Lungenentzündung können selbst dann erfasst werden, wenn man nicht weiss, wie viele dieser Menschen an COVID-19 erkrankt waren. Diese Informationen sind auf jeden Fall aufschlussreich, um zum Beispiel die Belastungen für das Gesundheitssystem abzuschätzen.

Das Argument 3 beinhaltet auch den folgenden Satz: «Die Todesfallrate [auf einem bestimmten Kreuzfahrtschiff] betrug 1,0%, aber es handelte sich weitgehend um ältere Menschen, bei denen die Todesrate von Covid-19 viel höher ist». Später schreibt er: «Die überwiegende Mehrheit der Betroffenen, wären Menschen mit begrenzter Lebenserwartung. Das steht im Gegensatz zu den Ereignissen um 1918, als viele junge Menschen starben.»

Ioannidis führt leider keine Quelle zu den Daten an. Doch eine hohe Sterblichkeitsrate bei der älteren Bevölkerung ist auch für sich genommen relevant. Menschen, die siebzig Jahre und älter sind, würden viele potenziell wertvolle Lebensjahre verlieren, die sie mit ihren Familien verbringen könnten. Auch zu bedenken gilt es, dass die von älteren Menschen für die Gemeinschaft verrichteten sozialen Arbeiten wegfallen würden. Hinzu kommt: Es sind nicht ausschliesslich ältere Menschen gefährdet. In einigen Ländern werden die Intensivstationen auch von jüngeren Menschen, die ernsthaft erkranken, stark belastet – auch wenn für jüngere Menschen die Prävalenz sowohl für die Krankheit selbst als auch für das Risiko, daran zu sterben, geringer ist.

In Italien wurde diese Woche berichtet, dass nur 44% der 1.545 COVID-19-Patienten auf der Intensivstation über 70 Jahre alt waren. In einigen Teilen des Landes sind die Intensivstationen nahe an der Kapazitätsgrenze. Es werden auch alarmierende Infektionsraten bei den Beschäftigten im Gesundheitswesen gemeldet. Dies bedeutet nicht, dass andere Länder zwingend mit denselben Vorkommnissen rechnen müssen: Italien hat beispielsweise eine relativ hohe Prävalenz von Antibiotikaresistenzen, die bei Sekundärinfektionen eine Rolle spielen könnten. Fakt ist aber: Zu den Menschen, die sterben, weil ein Gesundheitssystem überlastet ist, gehören junge wie alte Menschen (wie Ioannidis später auch betont).

Argument 4

«Wenn wir davon ausgehen, dass die Sterblichkeitsrate bei Personen, die mit SARS-CoV-2 infiziert sind, in der allgemeinen Bevölkerung 0,3% beträgt – eine mittlere Schätzung aus meiner Diamond-Princess-Analyse – und dass 1% der US-Bevölkerung infiziert wird (etwa 3,3 Millionen Menschen), würde dies etwa 10.000 Todesfälle bedeuten. [...] Wenn wir nicht von einem neuen Virus da draussen gewusst hätten, hätten wir vielleicht beiläufig bemerkt, dass die Grippe in dieser Saison etwas schlimmer ist als sonst. Die Medien hätten weniger darüber berichtet, als über ein NBA-Spiel zwischen den beiden langweiligsten Mannschaften.»

Dies scheint mir das zweite Schlüsselelement in Ioannidis' Argumentation zu sein: Dass sich die Experten des Gesundheitswesens weltweit in einer Art Panik befänden, während er einen kühlen Kopf bewahre. Für ihn befinden wir uns im Blindflug, weil wir die tatsächliche Anzahl von Neuinfektionen in der Bevölkerung aufgrund der unvollständigen Datenlage nicht kennen.

Dieses Wissen fehlt und trotzdem müssen die Experten im Bereich der Epidemiologie und der öffentlichen Gesundheit entscheiden, wann es gilt, die Bevölkerung explizit vor Krankheitsgefahren zu warnen, und wann es sich nicht lohnt, die Menschen aus der Ruhe zu bringen. Genau diese Experten rieten den Menschen weltweit, aufgrund der Ebola-Ausbrüche in Westafrika einen kühlen Kopf zu bewahren. Sie haben im richtigen Moment Ruhe bewahrt und keine Panik geschürt. Nur weil sie sich mit Daten befassen, die mit grösseren Unsicherheiten behaftet sind, als Ioannidis und zweifellos auch sie selbst es wünschen, heisst das nicht, dass es diesen Experten an Fachwissen fehlt, um die richtigen Entscheide zu treffen.

Nur wenn die Situation, die Ioannidis beschreibt, das Worst-Case-Szenario wäre, hätte er einen guten Punkt. Es ist jedoch sein Best-Case-Szenario. (Anmerkung der Redaktion: Epidemiologische Modelle gehen von einer sehr viel höheren Infektionsrate aus als Ioannidis. Das «Covid-19-Response-Team» des Imperial College in London rechnet ohne Gegenmassnahmen damit, dass sich über 80% der Bevölkerung in den USA und in Grossbritannien mit SARS-CoV-2 infizieren könnte.)

Argument 5

«Aufgrund der ungenügenden Datenlage führt die Sorge vor dem Worst-Case-Szenario zu extremen Massnahmen wie ‹Social Distancing› und ‹Lockdowns›. Leider wissen wir nicht, ob diese Massnahmen überhaupt funktionieren. Eine Abflachung der Kurve, um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, ist konzeptionell vernünftig – zumindest in der Theorie. Wenn die Epidemie das Gesundheitssystem überfordert und diese extremen Massnahmen aber nur eine bescheidene Wirksamkeit haben, dann kann eine Abflachung der Kurve einen negativen Effekt haben: Dann wäre das Gesundheitssystem nämlich wäre nicht während einer kurzen, akuten Phase, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg überfordert.»

Die Evidenz, auf die er sich bezieht, ist die weiter oben erwähnte Review der «Cochrane Collaboration», deren Datengrundlage aber schon über zehn Jahre alt ist. Er offenbart mit obigen Argument also eine zehnjährigen Wissenslücke.

Ich hatte vor einigen Jahren selber einen Blog-Beitrag veröffentlicht, der sich auf diese Review stützte. Im Beitrag lassen sich auch die Aktualisierung sehen, die ich später vorgenommen habe. Ich hatte nämlich festgestellt, dass es weit mehr Studien gab, als in der Publikation enthalten waren, und dass die darin gezogenen Schlussfolgerungen im Licht der neueren Informationen nicht akkurat und veraltet waren. Dennoch ist Ioannidis bereit, seine Bekanntheit dafür zu nutzen, um auf dieser Grundlage einen öffentlichkeitswirksamen Aufruf zur Untätigkeit zu machen.

Länderspezifische Schätzungen aus dem letzten Jahr legen nahe, dass ein Abflachen der Kurve nur einen kurzen Zeitgewinn bringt. Wenn diese Zeit jedoch gewinnbringend genutzt wird, könnte das Gesundheitssystem robuster gemacht werden, um eine hohe Zahl von Hospitalisierung aufgrund von Covid-19 besser verkraften zu können – zum Beispiel durch die Verzögerung nicht dringlicher Eingriffe und einer Kapazitätserhöhung in der Intensivpflege (Anmerkung der Redaktion: Wie es zurzeit in der Schweiz und anderen europäischen Ländern geschieht).

Die Beurteilung der momentan verfügbaren Daten und die Ratschläge an die Regierung kommen von Menschen, die über die spezifische Situation, mit der wir konfrontiert sind, weitaus besser informiert sind als Ioannidis. Er insinuiert jedoch, dass die führenden Experten des Gesundheitswesens weltweit einem kollektiven Wahn erlegen seien und dass die von diesen Experten empfohlenen Massnahmen «Milliarden, nicht nur Millionen von Leben» gefährden könnten. Daten für diese Behauptung liefert er aber keine.

Nichtstun wird zum Fiasko

Könnten Überreaktionen tatsächlich zu einem Fiasko führen? Ja, das könnte sein. Aber mehrere Länder haben genau solche Massnahmen eingeführt und scheinen die Ausbrüche damit unter Kontrolle zu bringen, sodass sie die Massnahmen in absehbarer Zeit wieder lockern können. Könnte andersherum ein Fiasko drohen, wenn keine Massnahmen ergriffen werden? Ja, wie wir anhand der Beispiele in Italien und anderen Ländern sehen können.

Freilich sind sich auch epidemiologische Experten nicht in jedem Punkt einig, was die richtige Vorgehensweise betrifft. Aber es besteht ein breiter Konsens darüber, dass es sich bei der Covid-19-Pandemie um einen Notfall für unser Gesundheitswesen handelt und dass wir rasch handeln müssen. Wir sollten nicht nur dasitzen und die Situation in Ruhe beobachten, bis wir ausreichende Informationen haben.

Ins Deutsche übersetzt von Anna-Katharina Ehlert & redigiert von Servan Grüninger am 18. März 2020.

Autor*innen

Autor*in

Hilda Bastian ist Patientenschützerin und erfolgreiche Wissenschaftskommunikatorin in statistischen, epidemiologischne und medizinischen Fragen. Weiter Informationen unter http://hildabastian.net/.

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