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Wissenschaft ist kein Wunschkonzert

Wenn Forschung und Entwicklung keinen Mehrwert bringen, dann gibt es keinen Grund, Zeit und Geld dafür aufzuwenden. Dafür ist das Geld zu knapp und die Zeit zu wertvoll. Doch wir müssen aufpassen, dass die wissenschaftliche Kreativität nicht unter zu hohen Erwartungen zusammenbricht.

Wissenschaft ist dann nützlich, wenn Sie unser Verständnis von der Welt verbessert; wenn sie Grenzen überwindet, Geheimnisse lüftet und neue Möglichkeiten schafft. Diesen Auftrag erfüllt sie mit Bravour.

Wir leben länger und gesünder – dank Wissenschaft. Wir können in Sekundenschnelle mit Menschen aus der ganzen Welt reden, lachen, streiten – dank Wissenschaft. Wir verwandeln Sonnenlicht in Strom, schicken Menschen und Satelliten ins All und tauchen zum tiefsten Punkt der Ozeane – dank Wissenschaft.

«Denn auch die Wissenschaft selbst ist Macht.»

Dieser Erfolg weckt natürlich Begehrlichkeiten. Immer öfters ist von politischer Seite zu hören, dass die Wissenschaft ihr Potential verstärkt in den Dienst von Wirtschaft und Gesellschaft stellen soll.

Das ist grundsätzlich nicht falsch. Eine Gesellschaft hat das Recht, über die Verwendung ihrer knappen (Forschungs)Ressourcen zu bestimmen. Und wenn ein Lehrstuhl für Neurobiologie stärkeren Rückhalt geniesst als die Erforschung des Paarungsverhaltens von Wasserflöhen, dann gilt es dies zu akzeptieren.

Wer zahlt, befiehlt

Forschungsziele immer enger an wirtschaftliche oder gesellschaftliche Kriterien zu knüpfen, birgt jedoch Gefahren. In der Debatte um die Freiheit von Forschung und Lehre stehen private Gönner schnell im Verdacht, ihre finanzielle Unterstützung zur inhaltlichen Einflussnahme zu missbrauchen. Dass aber auch öffentliche Geldgeber nicht frei von Eigeninteressen sind, wird kaum diskutiert. Dabei sind politische Zielvorgaben mindestens so schädlich für die Unabhängigkeit der Forschung wie wirtschaftliche Zwänge.

Wenn Politikerinnen und Politiker verlangen, dass sich die Forschung an wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Zielen zu orientieren habe, dann versteckt sich dahinter immer auch die Absicht, die Wissenschaft zur Durchsetzung der eigenen Agenda zu nutzen. Die Forderung, vermehrt an erneuerbaren Energien zu forschen, ist genauso politisch motiviert wie der Ruf nach mehr Geld für die Krebsforschung. In beiden Fällen schwingt ein Werturteil darüber mit, was als «nützlich» beziehungsweise «wichtig» zu gelten habe.

Vom Wert der Freiheit

Umso wichtiger ist es, die wissenschaftliche Unabhängigkeit nicht nur gegen wirtschaftliche, sondern auch gegen politische Einflussnahme zu verteidigen – nicht zum Selbstzweck, sondern aus reinem Eigeninteresse. Wenn wir nämlich auch in Zukunft in den Genuss bahnbrechender Entdeckungen kommen wollen, dann sollten wir uns davor hüten, die Forschungsfreiheit mit allzu engen Zielvorgaben einzuschränken.

Forschung ist keine Problemlösungsmaschine, die auf Knopfdruck das gewünschte Endprodukt liefert. Sie kann nur als komplexes Zusammenspiel von rigoroser Methodik, kreativer Vernetzung von altem und neuem Wissen sowie einer Prise Glück verstanden werden. Sie lebt vom Austausch, vom Ausprobieren, von Fehlversuchen.

Wissenschaft als Orientierungshilfe

Wissenschaft hat sich einzig daran messen zu lassen, ob sie unser Verständnis der Welt voranbringt und damit unsere Handlungsmöglichkeiten vergrössert. Der Nutzen der Forschung liegt deswegen nicht im fertigen Produkt, sondern in den Erkenntnissen, die wir auf dem Weg dahin gewonnen haben. Diese Erkenntnisse dienen uns als Orientierungshilfe, um uns innerhalb einer hochkomplexen Welt ein wenig besser zurecht zu finden.

Damit uns die Wissenschaft als Wegweiser dienen kann, müssen wir Forscherinnen und Forschern aber auch die Möglichkeit lassen, die geradlinig verlaufende Hauptstrasse der Praxis zu verlassen, um auf verschlungenen Trampelpfaden in unerforschte Gebiete vorzustossen – auch dann, wenn die wirtschaftliche oder gesellschaftliche Verwertbarkeit der dabei gewonnen Erkenntnisse unklar ist.

Auch praxisferne Forschung ist nützlich

Der Augustinermönch Gregor Mendel verbrachte einen wesentlichen Teil seines Lebens damit, Erbsen zu zählen – und entdeckte dadurch die Prinzipien der Vererbung. Die Grundlagen der heute allgegenwärtigen Anwendungen der Informatik wurden von Theoretikern wie Alan Turing, John von Neumann, Charles Babbage oder Ada Lovelace gelegt. Und die jüngste Revolution im Bereich der Gentechnik (das CRISPR/Cas-System) verdanken wir Forschenden, die neugierig genug waren, um die Immunabwehr von Bakterien gegen Viren zu untersuchen.

Müssten Forscherinnen und Forscher ihr Schaffen stets nach den Interessen von Wirtschaft oder Gesellschaft ausrichten – die Wahrscheinlichkeit wäre gross, dass wir noch heute auf zahlreiche bahnbrechende Entdeckungen warten müssten. So widersprüchlich es auch klingen mag: Die politische Forderung nach mehr wirtschaftlichem und gesellschaftlichem Nutzen in der Wissenschaft untergräbt eben diesen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Nutzen.

Wissenschaft braucht Freiräume

Wissenschaft soll nützen. Doch sie nützt uns nur dann etwas, wenn wir Wissenschafterinnen und Wissenschaftern die nötigen Freiräume lassen, um auf Erkundungsreise zu gehen. Wer hingegen jedes Forschungsprojekt unter dem Gesichtspunkt wirtschaftlicher oder gesellschaftlicher Nützlichkeit beurteilt, der degradiert die Forschung zur reinen Dienstleistung – und erstickt die Innovationskraft der Wissenschaft im Keim.

Dieser Artikel ist am 28. September 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.

Autor*innen

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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