«Sollen wissenschaftliche Erkenntnisse in der Politik eine grössere Rolle spielen?»1
Ja, findet FDP-Präsident Philipp Müller: «Etwas mehr Wissenschaft und etwas weniger Politik würden dem Parlament gut tun». Auch Martin Landolt von der BDP wünscht, dass «sich die Politik vermehrt wissenschaftlicher Erkenntnisse bedienen würde, um nachhaltige Lösungen zu finden».
Etwas anders sehen es die Grünen. Deren Co-Präsidentin Regula Rytz meint, dass es «für viele Fragestellungen keine eindeutige wissenschaftliche Antwort gibt». In die gleiche Kerbe schlägt SVP-Präsident Toni-Brunner: «Fast in jedem Politikbereich gibt es wissenschaftliche Erkenntnis in die eine und andere Richtung». Und Christian Levrat von der SP stellt unmissverständlich klar: «Die Freiheit der Politik, Entscheide zu treffen, ist ebenso wichtig wie die Freiheit von Forschung und Lehre».
Die Botschaft scheint eindeutig: Erkenntnisse aus Wissenschaft und Forschung sind schön und gut, aber am Ende will die Politik immer noch selber entscheiden, was richtig und falsch ist.
Ist das problematisch? Nicht unbedingt.
Die Freiheit, anders zu entscheiden
Wir wissen, dass Rauchen tödlich ist, dass exzessiver Fleischkonsum unser Klima belastet oder dass sich Masernepidemien mit einer Impfung verhindern liessen. Und trotzdem verbieten wir weder Zigaretten noch Schnitzel und zwingen die Menschen auch nicht zu einer Impfung. Warum? Weil wir in diesen Fällen die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen höher gewichten.
Wissenschaftliche Erkenntnisse sind eben kein Ersatz für politische Entscheidungen. Zwar hat GLP-Präsident Martin Bäumle Recht, wenn er sagt, dass «die Wissenschaft dabei helfen kann, der Politik die realen Gegebenheiten und mögliche Lösungswege aufzuzeigen.» Trotzdem sollten wir nicht den Fehler machen, wissenschaftliche Erkenntnisse mit normativen Handlungsanweisungen zu verwechseln.
Wissenschaft ist nicht das Mass aller Masse
Die Wissenschaft kann unser Verständnis der Welt verbessern, Fakten bereitstellen und mögliche Folgen unseres Handelns beschreiben. Die gesellschaftliche Wertung dieser Informationen fällt aber immer in den Bereich der Politik.
So ist die Abschätzung der ökologischen und ökonomischen Folgen des Bevölkerungswachstums eine zwar komplexe, aber im Grund völlig wertneutrale wissenschaftliche Angelegenheit. Dasselbe gilt für die genetische Veränderung des pflanzlichen Erbgutes oder die Möglichkeit zur vorgeburtlichen Selektion.
Politische Bedeutung erhalten wissenschaftliche Informationen erst dann, wenn wir sie mit unseren persönlichen Wertevorstellungen verknüpfen: Wie wichtig sind uns Umweltschutz und wirtschaftliche Wohlfahrt? Zu welchem Zweck möchten wir Pflanzen verändern? Welche Fortpflanzungsmedizin wollen wir?
Die Politik tut deshalb gut daran, «neue wissenschaftliche Erkenntnisse stets im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kontext zu diskutieren», wie es CVP-Präsident Christophe Darbellay fordert.
Umgekehrt sollten Forschende vermehrt den Mut haben, sich in der Politik zu Wort zu melden. Und zwar aus den folgenden zwei Gründen.
1) Politik ohne Wissenschaft ist nicht nachhaltig
Lösungsorientierte Politik muss wissenschaftliche Fakten berücksichtigen. Eine seriöse Diskussion über die Auswirkungen des Klimawandels lässt sich nicht führen, ohne zumindest ein grobes Verständnis der entsprechenden wissenschaftlichen Modelle und Annahmen zu haben. Auch die Kosten-Nutzen-Abschätzung der Kernenergie oder die ökologische Beurteilung der grünen Gentechnik ist ohne Expertenwissen nicht zu bewerkstelligen.
Hinzu kommt, dass der wissenschaftliche und technische Fortschritt immer rascher voranschreitet und kaum einen Lebensbereich unberührt lässt. Gene lassen sich punktgenau verändern. Selbstfahrende Autos sind Realität. Computer und Roboter übernehmen immer komplexere Arbeiten.
Umso dringender braucht es Stimmen in der Politik, welche die Konsequenzen solcher Entwicklungen ansatzweise abschätzen können. Andernfalls droht ein Übermass an Regulierung oder die völlige Abwesenheit von politischen Leitplanken.
2) Wissenschaft hat legitime Eigeninteressen
Wenn Arbeitnehmer, Bauern, Unternehmer, Ärzte, Banken, Tierschützer, Versicherer, Veganer, Kirchen – wenn all diese Berufs- und Interessengruppen für ihre Anliegen eintreten dürfen, wieso sollte es ausgerechnet Forschenden verwehrt sein, auf ihre Bedürfnisse zu verweisen?
Widerspricht es der wissenschaftlichen Neutralität, die Bedeutung internationaler Zusammenarbeit für die Forschung herauszustreichen? Ist es ideologisch, wenn die Universitäten sich für mehr Raum, mehr Geld und mehr Freiheit einsetzen? Schmälert es die wissenschaftliche Leistung von Biotech-Unternehmen, wenn sie gute Rahmenbedingungen für ihre Arbeit einfordern?
Ich denke nicht. Auch die Wissenschaft hat Eigeninteressen und deren Verteidigung sollte legitim sein.
Mehr Dialog wagen
Keine Frage: Wissenschaft muss unpolitisch bleiben. Es ist jedoch ein Unterschied, ob sich die Politik in wissenschaftliche Belange einmischt oder ob Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Erfahrungen, aber auch ihre Forderungen in die Politik einbringen. Ersteres muss unter allen Umständen verhindert werden; Letzteres wäre hingegen wünschenswert.
1Sämtliche Antworten stammen aus der Umfrage «Science Debate», welche vom Schweizerischen Nationalfonds und den Akademien der Wissenschaften Schweiz in Zusammenarbeit mit Smartvote erstellt wurde.
Dieser Artikel ist am 13. Oktober 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.
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