Im April 2022 beendete der Bundesrat die «besondere Lage» und hob die letzten Corona-Massnahmen auf. Der Schweizer Bevölkerung blieben vor allem die vielen Verstorbenen nachhaltig in Erinnerung, aber auch die gesellschaftliche Polarisierung und der damit verbundene aufgeheizte öffentliche Diskurs. Seither ist der gesellschaftliche Umgang mit Krisen nicht mehr aus unserer aktuellen öffentlichen Debatte wegzudenken. Doch welche Rolle spielt Kommunikation bei der Bewältigung einer Krise? Welche kommunikationswissenschaftlichen Erkenntnisse können uns dabei helfen, bessere und differenziertere Bewältigungsstrategien zu finden?
Annegret Hannawa ist Professorin für Kommunikationswissenschaften an der Università della Svizzera italiana in Lugano und hat Ende 2024 das «Europäische Institut für Sichere Kommunikation» (EISK) im Kanton Uri gegründet. Dieses setzt sich für mehr Kommunikationssicherheit und Schadensprävention in der Aviatik, dem Gesundheitswesen, in der Energiebranche und bei internationalen Krisen ein. Wir unterhalten uns über ihre langjährige Arbeit zu Kommunikationsproblemen im Pflege- und Gesundheitssektor und diskutieren, wie uns Kommunikation helfen kann, krisenresilienter zu werden und welche Rolle das neu gegründete EISK dabei übernehmen möchte.
Frau Hannawa, Sie sind Professorin an der USI in Lugano und forschen vor allem zur «sicheren Kommunikation». Gleich vorweg: Was ist «sichere Kommunikation»?
Sichere Kommunikation bedeutet, dass wir uns so miteinander verständigen, dass wir am Ende auch wirklich dasselbe darunter verstanden haben. Denn erfolgreiche Verständigung ist ein «zwischenmenschlicher Sicherheitsprozess.» Durch ein akkurates Verständnis verhindern wir vermeidbare Schäden, die häufig durch ungeklärte Missverständnisse entstehen.
Für diesen Prozess braucht es fünf zentrale, wissenschaftlich belegte Kompetenzen. Erstens geht es darum, dass wir eine ausreichende und gemeinsame Informationsbasis haben. Das heisst, alle Beteiligten sollen über genügend Informationen verfügen – und zwar dieselben. Diese Basis nennen wir «Suffizienz.»
Zweitens überprüfen wir gemeinsam, ob die vermittelten Informationen korrekt sind und ob unser Verständnis dieser Informationen sich deckt. Das ist der sogenannte Prozess der «Akkuratheit.»
Drittens nehmen wir Unklarheiten ernst. Es gibt keine zu kleine oder unwichtige Frage, wenn es darum geht, Mehrdeutigkeiten zu klären oder offene Punkte anzusprechen. Dieser Sicherheitsprozess läuft unter dem Begriff «Klarheit.»
Viertens berücksichtigen wir den situativen Kontext: Was ist das Ziel der Kommunikation? Können wir in der aktuellen Umgebung offen miteinander sprechen? Was ist gerade vorher passiert, und was steht kurz bevor? Diese «Kontextualisierung» ist entscheidend dafür, wie eine Botschaft eingeordnet wird und ausschlaggebend für eine erfolgreiche Verständigung.
Und schliesslich achten wir auf unsere kommunikativen Bedürfnisse. Können wir emotional aufnehmen, was gesagt wird? Verstehen wir das Vokabular? Müssen wir die Sprechgeschwindigkeit anpassen? Dieser Prozess der «interpersonellen Anpassung» ist der fünfte Bestandteil einer sicherheitsfördernden Kommunikation.
Diese fünf Kompetenzen – Suffizienz, Akkuratheit, Klarheit, Kontextualisierung und interpersonelle Anpassungsfähigkeit – bilden zusammen das sogenannte SACCIA-Modell. Wenn wir sie nutzen, vermeiden wir Schäden, die häufig aus missglückter Kommunikation entstehen. Deshalb sprechen wir von «sicherer Kommunikation».
Wie definieren Sie eine Situation, in der „sichere Kommunikation“ erforderlich ist?
In Hochrisikosituationen kann ein Missverständnis schwerwiegende Folgen haben. Studien zeigen, dass in solchen Kontexten bis zu 80 Prozent aller vermeidbaren Schadensfälle auf gescheiterte Kommunikation zurückzuführen sind.[1] Das bedeutet: In riskanten Situationen muss das Ziel «Wir meinen wirklich dasselbe» über alle anderen Kommunikationsfunktionen gestellt werden. Und genau das fällt uns oft schwer – gerade dann, wenn es «menschelt».
In einem der zahlreichen Schadensfälle, die wir kommunikationswissenschaftlich analysiert haben, erkannte eine Ärztin beispielsweise, dass sich der Zustand eines pädiatrischen Patienten postoperativ verschlechterte. Sie wollte ihren Kollegen darauf hinweisen, bemerkte jedoch, wie gereizt und gestresst er war. Also sprach sie das Thema vorsichtig an – in freundlichem Ton, um Konflikte zu vermeiden und die kollegiale Beziehung zu wahren. Der Kollege erkannte die Dringlichkeit deshalb nicht. Als er am nächsten Tag nach dem Kind sah, war es zu spät.
Gerade in solchen kritischen Momenten zeigt sich, wie entscheidend sichere Kommunikation ist: Sie schafft Fehlerresistenz, indem sie ein gemeinsames Verständnis sicherstellt – selbst wenn das bedeutet, andere Kommunikationsziele kurzfristig zurückzustellen und, wie in diesem Fall, die Beziehungsarbeit zugunsten der Sicherheit hintenanzustellen.
Würden Sie sagen, dass das Interesse an sicherer Kommunikation seit der Corona-Pandemie gestiegen ist?
Das wäre schön – aber ich fürchte, das Gegenteil ist der Fall. Nach der Pandemie war der Wunsch, all das Belastende einfach hinter sich zu lassen, grösser als das Interesse daran, wirklich etwas daraus zu lernen. Anstatt sichere Kommunikation gezielt zu stärken, ist sie vielerorts weiterhin unterschätzt worden.
Dabei hat die Pandemie tiefe kommunikative Wunden hinterlassen – etwa durch Konflikte, Vertrauensbrüche oder sprachliche Gräben zwischen Bevölkerungsgruppen. Viele dieser Brüche wurden nie aufgearbeitet. Und genau das birgt eine Gefahr: Wenn wir jetzt nicht in unser «kommunikatives Immunsystem» investieren, um unseren Zusammenhalt in Krisen zu stärken, droht uns beim nächsten Mal – etwa bei einer neuen Pandemie – ein noch grösserer Rückschlag.
Das Grundproblem liegt darin, dass Kommunikation oft auf ihre Informationsfunktion reduziert wird – besonders in Krisenzeiten. Sie wird dann vor allem als Instrument zur Steuerung der Bevölkerung gesehen. Dabei wird übersehen, wie zentral ihre Beziehungsdimension ist. Menschen fühlten sich während der Pandemie nicht nur schlecht informiert, sondern oft auch allein gelassen oder gegeneinander ausgespielt. Solche Verletzungen heilen nicht von selbst.
Deshalb brauchen wir jetzt eine Art kommunikativen Wiederaufbau – mit gezielter Prävention, Schulung und Förderung alltagstauglicher Kommunikationskompetenzen. Denn Sicherheit beginnt nicht erst in der Krise, sondern lange davor: wenn Menschen lernen, wie heilsame und zerstörerische Kommunikation funktioniert, wie man sie erkennt, wie man die Kommunikation in Krisensituationen als Sicherheitsmechanismus aktiviert, um gemeinsam stark und handlungsfähig zu sein.
Und das betrifft nicht nur Pandemien. Auch mit Blick auf gesellschaftliche Polarisierung, Desinformation und digitale Echokammern im Kontext aktueller globaler Krisen zeigt sich: Die Konflikte der Zukunft verlaufen nicht mehr entlang von Landesgrenzen, sondern mitten durch unsere Gesellschaft – angestossen oder verschärft durch emotional aufgeladene Kommunikation, die nicht auf Verstehen, sondern auf Reiz, Reaktion und Spaltung zielt.
Wer hier nicht vorbereitet ist, macht sich verletzbar – nicht militärisch, sondern sozial und psychologisch: durch Vertrauensverlust, Spaltung und Eskalation. Sichere Kommunikation ist deshalb keine «weiche» Kompetenz, sondern eine strategische Ressource. Sie entscheidet, wie widerstandsfähig eine Gesellschaft in Krisen wirklich ist.
Beim Thema Kommunikation und Corona denken die meisten von uns wahrscheinlich an Verschwörungstheorien. Inwieweit spielen Verschwörungstheorien für Ihre Arbeit eine Rolle?
Zunächst einmal: Verschwörungstheorien sind kein neues Phänomen – es gab sie schon in der Antike. Neu ist ihre Geschwindigkeit, Reichweite und emotionale Durchschlagskraft im digitalen Raum. Die Inhalte selbst folgen immer noch denselben Mustern wie damals: Sie leben von effektivem Storytelling – mitreissenden Erzählungen, die uns emotional im Kern unserer Menschennatur packen und dabei das rationale Denken aushebeln.
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist deshalb ein fundiertes Verständnis für die neurologischen Effekte von Storytelling entscheidend. Denn Verschwörungstheorien sind kein reines Informationsproblem. Es geht nicht einfach darum, dass Menschen zu wenig oder falsche Fakten haben – es geht um Beziehung und Vertrauen. Wer sich nicht gehört, gesehen oder ernst genommen fühlt, ist empfänglicher für einfache Erklärungen, die Zugehörigkeit versprechen, emotional ansprechen und kognitive Kontrollmechanismen unterlaufen. Genau dort entfalten Verschwörungserzählungen ihre manipulative Kraft.
In der sicheren Kommunikation verstehen wir solche Phänomene jedoch als Symptome gescheiterter Verständigung. Und wir müssen feststellen: Während offizielle Stellen oft rein sachlich informieren – etwa über Faktenchecks –, agieren Verschwörungstheoretiker strategisch auf der Beziehungsebene. Und das deutlich wirksamer.
Das heisst: Wenn wir Menschen im Kontext von Sicherheitsthemen wirklich erreichen wollen, reicht es nicht, ihnen nur die richtigen Informationen zu liefern. Wir müssen mit ihnen kommunizieren – echtes Vertrauen aufbauen, Unsicherheiten ernst nehmen, aktiv zuhören. Genau hier setzt sichere Kommunikation an. Sie schafft nicht nur Klarheit, sondern gesellschaftliche Resilienz.
Auf das Gesundheitswesen bezogen: Wie gefährlich sind Verschwörungstheorien im Vergleich zu anderen Kommunikationsproblemen wirklich?
Zunächst sollten wir klären, was wir überhaupt unter «Gefahr» oder «Schaden» verstehen. Im Gesundheitswesen reicht es nicht, bei einem Kommunikationsfehler nur den physischen Schaden am Patienten zu betrachten. Das würde vieles ausblenden – etwa die emotionalen Folgen für das Fachpersonal, das nach einem Fehler mit Schuldgefühlen, Scham oder sogar einem Burnout zu kämpfen hat. Oder eine toxische Organisationskultur, in der Reputationssicherung wichtiger ist als echte Aufarbeitung und Heilung.
Genauso müssen wir auch bei Verschwörungstheorien genau hinschauen. Sie sind nicht per se gefährlich. Viele erfüllen soziale Funktionen – sie unterhalten, stiften Identität oder fördern Zugehörigkeit. Gefährlich werden sie erst, wenn sie gezielt Vertrauen untergraben, Menschen von medizinischer Versorgung abhalten oder Feindbilder schaffen.
Die eigentliche Frage ist also nicht, ob wir kommunizieren – sondern wie. Fördert unsere Kommunikation Heilung, Vertrauen und Bindung? Oder wird sie zum Mittel, um sich auf Kosten anderer Vorteile zu verschaffen – auch wenn dabei Schaden entsteht? Das Risiko liegt nicht im Phänomen «Verschwörungstheorie» oder «Kommunikationsproblem» an sich, sondern in der Qualität der Kommunikation. Genau dort entscheidet sich, wie gefährlich sie wird.
Sie engagieren sich stark für mehr «sichere Kommunikation» im Gesundheitswesen – wie gelingt Ihnen der Balanceakt zwischen Wissenschaft und gesellschaftlichem Engagement? Wo sehen Sie die Grenzen der Wissenschaft in diesem Bereich?
Der Balanceakt liegt für mich darin, wissenschaftliche Integrität zu wahren – also methodisch akkurat zu arbeiten und sauber zu argumentieren – und gleichzeitig nicht zu verstummen, wenn ich sehe, dass genau dieses Wissen gesellschaftlich ungenutzt bleibt. Denn eigentlich sollte es keine Grenze zwischen Wissenschaft und Gesellschaft geben. Wenn überhaupt, dann sollte dort ein Begegnungsraum liegen. Aber wie auch immer man es nennt: Die eigentliche Hürde liegt aus meiner Sicht darin, dass die Wissenschaft in vielen gesellschaftlich relevanten Themen an ihrer eigenen Kommunikation scheitert – und die Gesellschaft deshalb von diesem Wissen nicht profitiert.
Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel: Wir haben nicht zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir haben ein Umsetzungsproblem. Seit Jahren wissen wir, was zu tun wäre. Aber dieses Wissen dringt zu wenig durch – weder in die Politik noch in die breite Gesellschaft. Wissenschaft produziert Wissen, aber viel zu oft bleibt es in Publikationen stecken, statt gesellschaftlich wirksam zu werden.
Ganz ähnlich ist es in der Patientensicherheit. Die Daten liegen vor, die Probleme sind klar benannt – und doch verändert sich zu wenig. Die politischen Konversationen finden statt, und einmal im Jahr wird anlässlich des Welttags der Patientensicherheit ein Gebäude orange beleuchtet. Aber die Realität auf den Stationen bleibt dieselbe – und die Zahlen verbessern sich viel zu langsam. Für mich ist das schwer auszuhalten. Denn während wir über Symptome reden, fehlt oft die Auseinandersetzung mit der eigentlichen Wurzel des Problems: unserer Fähigkeit, sicher und stärkend miteinander zu kommunizieren.
Deshalb liegt mein Fokus auf praxisnaher Forschung in diesem Bereich. Das ist vielleicht nicht das, was wissenschaftlich-institutionell besonders gefeiert wird – aber es ist das, was für mich zählt. Weil es nicht nur mein Thema als Forscherin betrifft, sondern auch mein Leben als Mensch.
Sie haben vor Kurzem das interdisziplinäre «Europäische Institut für Sichere Kommunikation (EISK)» gegründet – welche Ziele verfolgt das EISK ganz allgemein und welche gesellschaftliche Rolle möchte das EISK einnehmen?
Die Gründung des EISK entspringt genau dem Herzschlag, den ich gerade beschrieben habe. Nach jahrzehntelanger Forschungsarbeit und ebenso langem – oft frustrierendem – Engagement auf Plattformen wie globalen Ministerialratsgipfeln bin ich zu einem klaren Schluss gekommen: Es braucht dringend ein solches Institut. Ein unabhängiges, nicht-universitäres, gemeinnütziges Institut – frei von wirtschaftlichen oder politischen Interessenkonflikten. Eine Plattform, die als neutraler Begegnungsraum dient: für Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Ein Ort, an dem evidenzbasierte Lösungsansätze nicht nur diskutiert, sondern gemeinsam in die Praxis übersetzt, begleitet und evaluiert werden können – und zwar gerade dort, wo sie gebraucht werden: in sicherheitskritischen Bereichen.
Deshalb deckt das EISK mehrere Hochrisikobranchen ab – unter anderem das Gesundheitswesen, das Rettungswesen, die Luftfahrt, die Energiebranche sowie die Kommunikation im Kontext globaler Krisen. Ziel ist es, sichere Kommunikation als zentralen Sicherheitsfaktor ernst zu nehmen – und ihre Anwendung systematisch und wirksam zu stärken.
Sich auf Krisen vorzubereiten ist aufgrund der Breite des Begriffs «Krise» und der Vielfalt an Krisen ein komplexes Unterfangen. Wie bereiten Sie sich im EISK auf diese Vielfalt vor?
Im EISK geht es weniger darum, jede einzelne Krise inhaltlich vorauszudenken. Stattdessen konzentrieren wir uns auf das, was Krisen gemeinsam haben: den kommunikativen Ausnahmezustand. In solchen Momenten ist Kommunikation nicht nur Mittel zum Zweck – sie wird selbst zum Sicherheitsfaktor.
Deshalb legen wir den Fokus auf die Stärkung grundlegender Kommunikationskompetenzen, die in jeder Art von Krise wirksam sind. Wir verstehen Kommunikation dabei nicht als reine Informationsweitergabe, sondern als zwischenmenschlichen Sicherheitsmechanismus. Wenn Menschen in der Lage sind, auch unter Stress klar, verständlich und verbindend zu kommunizieren, können sie gemeinsam handlungsfähig bleiben – egal, wie die konkrete Krise aussieht.
Sichere Kommunikation ist also keine Frage der Situation, sondern der Vorbereitung. Sie ist eine lernbare Kompetenz – und sie ist entscheidend dafür, ob Gesellschaften in Krisen auseinanderbrechen oder zusammenstehen.
Unsere Aufgabe am EISK ist es deshalb, genau diese Kompetenzen systematisch zu fördern – in Organisationen, in der Politik und im öffentlichen Diskurs. Denn wenn wir Kommunikation dem Zufall oder gewohnten Automatismen überlassen, entstehen Missverständnisse, Vertrauensverluste und Spaltungen – oft mit schwerwiegenden Folgen.
Kommunikation wirkt immer. Die Frage ist, ob sie stärkt oder schwächt. Genau hier setzt unsere Arbeit am EISK an.
References
Janagama SR, Strehlow M, Gimkala A, Rao GVR, Matheson L, Mahadevan S, Newberry JA. Critical Communication: A Cross-sectional Study of Signout at the Prehospital and Hospital Interface. Cureus. 2020 Feb 27;12(2):e7114. doi: 10.7759/cureus.7114. PMID: 32140371; PMCID: PMC7047340.
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