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Medizin ermöglicht Selektion vor der Geburt: Was nun?

Welche Massnahmen sind in der Pränatalen Diagnostik möglich? Wie werden sie ethisch beurteilt und wie erfolgen Beratungsgespräche in der Praxis? Diesen Fragen gingen vergangenes Wochenende Philosophen und Naturwissenschaftler an der Uni Bern im Workshop „Vorgeburtliche Selektion“ nach. Dieser wurde vom Philosophiestudenten Jonas Wittwer organisiert.

«Cystische Fibrose ist die zweithäufigste autosomal-rezessive Erbkrankheit in unseren Breitengraden», erklärte Sabina Gallati, Professorin für Humangenetik und Leiterin der Abteilung für Humangenetik an der Kinderklinik am Inselspital Bern. Autosomal-rezessiv bedeutet, dass die Krankheit dann ausbricht, wenn bei beiden Chromosomen eines Chromosomenpaares das gleiche Gen mutiert ist. «Beim Ehepaar B fanden sich beim Ehemann zwei Mutationen, die bekannterweise zu Cystischer Fibrose, kurz CF führen. Er war CF-Patient und unfruchtbar. Es stellte sich heraus, dass auch seine Frau Trägerin einer CF-Mutation war. Damit bestand eine Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent, dass ihr Kind an CF leiden würde.»

Seit 25 Jahren ist Gallati Abteilungsleiterin der Humangenetik und führt in dieser Funktion Beratungsgespräche durch. Für das Ehepaar B gäbe es verschiedene Möglichkeiten: die Adoption, einen Samenspender, eine künstliche Befruchtung mit Präimplantationsdiagnostik oder einen Verzicht auf den Kinderwunsch. «In einer genetischen Beratung geht es primär ums Informieren; die Entscheidung liegt dann beim Paar», so die Humangenetikerin. Präimplantationsdiagnostik ist in der Schweiz nur in Fällen schwerer Erbkrankheiten erlaubt. Was schwer wiege, hänge stark von den Auffassungen, Fähigkeiten und Erfahrungen der Eltern ab, weshalb dieser Begriff nicht abschließend definierbar sei, so Gallati, die nebst ihrer Arbeit am Inselspital das Präsidium der Expertenkommission für genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMEK) innehat.

IVF, PID und PND

Für das bessere Verständnis der medizinischen und technischen Möglichkeiten lieferte Sabina Gallati den Teilnehmenden einen Überblick, dessen Kernpunkte in den folgenden vier Absätzen wiedergegeben werden:

  1. Pränatal Diagnostik (PND) beinhaltet einerseits nicht-invasive Untersuchungen wie Screening, Ultraschall (z.B. Nackenfaltenmessung) oder Analyse des mütterlichen Bluts (z.B. Erst-Trimester-Test zur Feststellung der Wahrscheinlichkeit einer Chromosomenstörung wie z.B. Trisomie 21/ 18/ 13). Andererseits können solche Maßnahmen eine Indikation für invasive Untersuchungen wie z.B. eine Fruchtwasserpunktion (ab der 16. Schwangerschaftswoche) oder eine Chorionzottenbiopsie (ab 11.-12. Woche), die beispielsweise eine Trisomie beim Embryo mit Sicherheit diagnostizieren oder ausschliessen kann, liefern.
  2. Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) werden bei der künstlichen Befruchtung (IVF) fünf bis acht Embryonen erzeugt. Dafür braucht es in der Regel 10-12 Eizellen, davon werden sieben bis acht erfolgreich befruchtet. Von diesen entwickeln sich wiederum fünf bis sechs zu Embryonen weiter, vier bis fünf stehen dann zur Analyse zur Verfügung und durchschnittlich zwei Embryonen eignen sich danach für einen Transfer in den Mutterleib; sofern sie nicht Träger jenes genetischen Defekts sind, nach dem in der Analyse gesucht worden war. Solche Embryonen können auf Wunsch bis zu fünf Jahre lang eingefroren werden. Inwiefern eine Krankheit erkannt werden kann, hängt davon ab, ob man alle relevanten Gendefekte, die diese Krankheit verursachen, bereits kennt.
  3. Zur Analyse der Embryonen kennt die PID aktuell drei Methoden: Die Polkörperdiagnostik (die Polkörperchen der Eizelle werden analysiert, diese sind ein Überschussprodukt aus der Zellteilung) und die Embryobiopsie, bei der dem Embryo im 8-Zellenstadium ein bis zwei Zellen entnommen werden. Seit Kurzem gibt es auch die Trophektoderm-Biopsie, bei der dem Embryo nur Zellen aus der zukünftigen Plazenta für die Diagnostik entfernt werden; diejenigen Zellen, die sich zum Kind entwickeln (Embryoblast) bleiben unangetastet.
  4. Alle Verfahren bergen ein bestimmtes Risiko für den Embryo und/oder die Schwangerschaft. Die Take Home Baby Rate mit PID beträgt für Paare mit chromosomalen Translokationen ungefähr 80 Prozent.

«Da man bei der PID wie auch bei der PND nur bezüglich einer bestimmten Fragestellung testet, könnte auf diese Weise kein Kind nach Mass erzeugt werden», erklärte Gallati. Eine Behinderung «auszurotten» sei beispielsweise auch nicht möglich, da immer wieder Spontanmutationen entstehen würden, so die Humangenetikerin.

Ethische Dimension der Vorgeburtlichen Selektion

In einem zweiten Schritt erläuterte Andreas Müller, Assistenzprofessor am Institut für Philosophie an der Universität Bern, die ethische Dimension vorgeburtlicher Selektion. «Grundsätzlich können drei Fragen unterschieden werden: wer selektiert, wie wird selektiert und warum wird selektiert beziehungsweise mit welchem Ziel und nach welchen Kriterien wird selektioniert», erklärte Müller.

Bei der Frage «Wer selektiert?» steht die Rolle der Eltern und des Staates im Vordergrund. In der Eugenik, wie sie beispielsweise im Dritten Reich betrieben worden ist, hat der Staat Massnahmen mit dem Ziel der Verbesserung des Genpools der Bevölkerung verordnet und durchgesetzt. Anders sei heute, sofern von Eugenik gesprochen werde, von liberaler Eugenik die Rede, bei der die Fortpflanzungs- und Selektionsentscheide den Eltern überlassen seien.

Bei der Frage, wie selektioniert wird, verlagert sich der Fokus auf die diversen Methoden, die dafür ergriffen werden können. Je nach Methode kann eine unterschiedliche, ethische Bewertung einhergehen. Andreas Müller unterschied zwischen der Pränataldiagnostik, die mit einem Schwangerschaftsabbruch verbunden ist und der Präimplantationsdiagnostik, bei der die Auslese sich auf Embryonen in Vitro bezieht. Relevant für die Bewertung dieser Methoden ist die Frage, wann Leben beginnt, beziehungsweise wann es moralisch vertretbar ist, es zu beenden.

Menschliches Leben und dessen Schutz

Müller verwies bei der Frage nach dem Zeitpunkt des Lebensbeginns beziehungsweise dem moralisch rechtmässigen Verwerfen von menschlichem Leben auf das Argument, dass das Töten von Embryonen moralisch falsch sei, weil es zum einen die Interessen des Embryos und zum anderen sein Recht auf Leben verletze. Ein Recht auf Leben werde einem Embryo oder Fötus üblicherweise deshalb zugesprochen, weil dieser ebenso schutzwürdig sei, wie ein (unschuldiger) Mensch. Gründe für diesen Vergleich seien, dass der Fötus derselben Spezies angehöre, dass eine Entwicklung in einen Menschen kontinuierlich verlaufe, dass ein Fötus mit einem Menschen identisch sei oder, dass ein Fötus das Potential habe, sich zu einem Menschen zu entwickeln.

Der Philosophieprofessor zeigte in seinem Referat jedoch auf, dass sowohl gegen das Interessenargument als auch gegen das Argument, welches auf dem Recht auf Leben basiert, gewichtige Einwände erhoben werden können. In Bezug auf Ersteres fügte Müller eine Argumentation von Peter Singer an, der zufolge der Schutz eines Menschen ausschliesslich von dessen Interessen abhängt. Ein Mensch, dessen Interessen unterhalb einer gewissen Marke liegen oder der sehr viel leidet, hat konsequenterweise keinen wesentlichen Anspruch mehr gegenüber anderen Menschen mit gewichtigeren Interessen und verliert seine Schutzwürdigkeit. Bezüglich des Rechts auf Leben verwies Andreas Müller auf das Violinisten-Gedankenexperiment von Judith Thomson. Diese vergleicht die Lage einer Schwangeren mit derjenigen einer Person, die sich plötzlich auf Leben und Tod mit einer anderen Person verbunden wiederfindet (verbundener Blutkreislauf). Das Leben der an sie angeschlossenen Person hängt komplett von ihr ab. Gemäss Thomson überbietet das Recht der angeschlossenen Person auf Lebenserhaltung nicht jenes auf Selbstbestimmung der beanspruchten Person. Diese hätte moralisch gesehen das Recht, die Schläuche durchzutrennen. Judith Thomson vertritt also die These, dass das Selbstbestimmungsrecht über den Körper das Recht auf Leben und Lebenserhaltung übertrumpft und deshalb zum Beispiel Abtreibung gerechtfertigt ist.

Diskussion in der Gruppe

Woher kommt überhaupt die Rede von Rechten wie dem Recht auf Leben und wie entstehen solche Rechte? Ist Unfruchtbarkeit eine Krankheit? Ist das Leben graduell wertvoll, zum Beispiel mit zunehmender Differenzierung hin zu einem Menschen? Solche und viele andere Fragen kamen in der Plenums-Diskussion nach den Expertenreferaten auf. Dabei brachten die Teilnehmenden und Dozierenden immer wieder neues Wissen aus ihren Fachbereichen ein.

Es wurde die Befürchtung angesprochen, dass mit PID auf medizinische Weise Probleme behoben würden, die man besser gesellschaftlich lösen könnte. Nach einem Alter von 35 Jahren steigt zum Beispiel das Risiko mütterlicherseits für chromosomale Fehlverteilungen exponentiell. Wären zahlreiche PIDs nicht überflüssig, wenn Paare jung Kinder haben könnten – ohne deshalb beispielsweise gleich auf eine Karriere verzichten zu müssen? Hierbei rückte vor allem die Frau ins Blickfeld. Wenig später verlagerte sich der Fokus auf die Rolle des werdenden Vaters. Der Mann werde oft nicht in die Entscheidung einbezogen, denn letztlich bestimme immer die Frau aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts über ihren Körper, ob ein Kind abgetrieben werde oder nicht, so eine Wortmeldung. Angenommen der Vater möchte ein Kind, obschon es zum Beispiel Trisomie 21 hat. Die Frau will es aber nicht und treibt ab. Die Frau kann ohne partnerschaftliche Rücksprache mit Recht eine Abtreibung durchführen. Stellen wir uns vor, der Partner ruft aus: «Du tötest mein Kind! Du hättest mich miteinbeziehen sollen!» Ist sein Vorwurf legitim, so hat die Frau ein Recht ausgeübt und zugleich moralisch verwerflich gehandelt.

Grundlage für Meinungsbildung schaffen

«Bei der Abstimmung 2015 über die Änderung der Verfassungsbestimmung zur Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich war die Debatte oft uninformiert geführt worden», merkte Jonas Wittwer, Organisator des Workshops und Student der Geschichte und Philosophie des Wissens an der ETH Zürich an. «Unsere Gesellschaft sieht sich mit neuen Technologien konfrontiert. Zum Beispiel die PID, durch die Selektionen vorgenommen werden. Wie wir damit umgehen, darüber muss eine informierte Auseinandersetzung erfolgen», ist der Neunundzwanzigjährige aus Bern überzeugt. Der Workshop «Vorgeburtliche Selektion» solle dazu beitragen, aber auch generell die Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Naturwissenschaften verstärken.

Tag Zwei des Workshops

Zu Beginn des zweiten Kurstages stellten zwei Doktorandinnen ihre Promotionsprojekte vor. Stephanie Elsen promoviert zum Thema «Kognitive Behinderung und Inklusionsansprüche» in Philosophie an der Uni Bern. Bettina Zimmermann befasst sich in ihrer Doktorarbeit am Institut für Bio- und Medizinethik der Universität Basel mit der Einstellung von Betroffenen und den Medien gegenüber Gentests.

Nach einer Phase kleinerer Gruppendiskussionen, die von den Dozierenden und Doktorierenden zu verschiedenen Themen geführt worden waren, begann am Nachmittag die letzte Plenumsdiskussion. Unter anderem kamen Fragen auf wie: Wer sollte Zugang zu IVF mit PID (zusammen kostet dies zwischen 15´000 bis 20´000 Franken) haben? Sollte nur im Falle schwerer Krankheit der Zugang offenstehen? Was ist eine schwere Krankheit, vor allem angesichts neuer Therapien? Was ist eine schwere Behinderung und inwiefern hängt der Schweregrad vom gesellschaftlichen und familiären Umfeld ab?

Nebst diesen Fragen zum Umgang mit neuen Technologien, wurden auch grundsätzliche Fragen aufgeworfen, so zum Beispiel, ob es ein Recht auf ein Kind gibt und ob der Verzicht auf biologische Elternschaft gegenüber einer IVF mit PID allgemein zu bevorzugen ist. Denn bei einer PID werden Embryonen erzeugt, mit der Absicht diese gleich wieder zu verwerfen, wenn sie gewissen Kriterien nicht genügen. Bis zum Schluss waren sich die Beteiligten uneinig darüber, ob einem Embryo ein moralischer Status zukommt oder nicht, beziehungsweise ob es sich bei einem solchen um menschliches Leben oder einen Haufen Zellen handelt.

Erfolgreiche Auseinandersetzung

«Eine Diskussion ist gelungen, wenn klarer wird, weshalb genau für welche Fragen Uneinigkeit besteht oder auch klarer wird, wieso man selbst eine gewisse Haltung vertritt», äusserte sich Andreas Müller am Schluss der Veranstaltung. Auch Sabina Gallati hielt fest, dass die zwei Tage horizonterweiternd und für ein differenziertes Nachdenken sehr förderlich gewesen seien. «Die Fallbeispiele von Frau Gallati haben mich dahingehend beeindruckt, dass sie auf die vertrackte Situation hinwiesen in der sich potentielle Patienten und Eltern befinden», hielt Bernhard Franck, Philosophie- und Volkswirtschaftsstudent von der Universität Freiburg im Breisgau fest. «Dadurch erhielten die Philosophen einen Einblick in die Realität, anderseits gab der Workshop Einblick in die Stärken theoretischer Reflektion und systematischer Argumentationen», so der Zwanzigjährige.

Unterstützt wurde diese Veranstaltung durch die ix.win AG Bern, die Fachschaft Philosophie und Jasmine Kamer: Tretar Catering. Zudem arbeitete der ETH-Student mit der Grassroots-Ideenschmiede Reatch zusammen, die sich für ein gutes Zusammenspiel zwischen Wissenschaft und Gesellschaft einsetzt. Die meisten der rund 30 Teilnehmenden waren Studierende der Uni Bern. Doch auch eine angehende Hebamme, Studierende aus Freiburg (im Breisgau) sowie NaturwissenschaftlerInnen beteiligten sich am Workshop. Die Teilnahmegebühr betrug 72 Franken.

Autor*innen

Autor*in

Angela Krenger (27) studiert Philosophie und Rechtswissenschaften an der Universität Bern. Sie war Teilnehmerin des Workshops zur vorgeburtlichen Selektion.


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