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Komplexität als Kerngeschäft

Viele Menschen erwarten von der Wissenschaft einfache Antworten auf komplexe Fragen. Doch Forschungsergebnisse haben es an sich, die Dinge nicht einfacher, sondern komplizierter zu machen.

In einem früheren Beitrag hatte ich die Fehlbarkeit von Hypothesen als eine entscheidende Stärke der Wissenschaft bezeichnet. Wissenschaftliche Forschung ist nur deshalb so erfolgreich, weil das regelmässige Korrigieren von Fehlern zum Tagesgeschäft gehört.

Wenn es aber darum geht, neue wissenschaftliche Erkenntnisse einem breiten Publikum zu vermitteln, dann kann die Fehlbarkeit rasch zur Bürde werden.

Grauzonen statt Schwarz und Weiss

Viele von uns erwarten klare Antworten und einfache Lösungen von der Wissenschaft. Sie soll uns zeigen, wie wir die Herausforderungen des Klimawandels meistern, gesund bleiben und glücklich durch das Leben schreiten können – und das Ganze am liebsten so schnell, bequem und günstig wie möglich.

Doch Wissenschaft hat die Angewohnheit, aus einem «Entweder-Oder» ein Kontinuum zu schaffen; Schwarz und Weiss in Grauzonen zu verwandeln. Kurz: Sie ist sehr erfolgreich darin, die Dinge ausgesprochen kompliziert zu machen.

Wissenschaftliche Erklärungen sind selten intuitiv

Die Erarbeitung der Evolutionstheorie ist ein hervorragendes Beispiel dafür. Mitte des 19. Jahrhunderts räumten Charles Darwin und Alfred Wallace mit der Idee auf, dass es so etwas wie eine von Gott gegebene Hierarchie der Arten mit dem Menschen an der Spitze gibt. Ihre Erläuterungen sind auch heute noch weitgehend schlüssig, doch intuitiv zugänglich waren sie nie. Im Gegenteil: Die Evolutionstheorie hat die Beschreibung der Welt nicht einfacher, sondern komplizierter gemacht.

Schöpfung vs. Evolution

Die Vorstellung, dass Gott sämtliche Lebewesen auf unserer Erde am dritten, fünften und sechsten Tag erschaffen und seither unverändert gelassen hat, ist ziemlich eingängig.

Von der Evolutionstheorie lässt sich das nicht wirklich behaupten: Dass alle heute erkennbaren Arten bis zu einem gewissen Grad miteinander verwandt und aus gemeinsamen Vorgängerorganismen entstanden sind, wobei das Überleben eines Individuums und die Entstehung einer Art von einer Mischung aus zufälligen Mutationen und natürlicher Selektion abhängt – damit bekunden selbst Biologiestudenten manchmal Mühe.

Hinzu kommt, dass sich unser Verständnis der Evolution beständig weiterentwickelt. Neue Thesen kommen hinzu, falsche Aussagen werden widerlegt, interne Widersprüche aufgelöst. Je mehr Forscher sich mit der Evolutionstheorie beschäftigen, desto detaillierter, exakter und komplexer wird sie.

Ein steter Wandel

So ist es eigentlich überall in der Forschung: Je tiefer wir in eine Materie eindringen, desto komplexer werden die zu erklärenden Zusammenhänge – und desto grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir einige unserer bisherigen Aussagen überdenken und anpassen müssen.

So etwas wie «unumstössliche Wahrheiten» gibt es nicht in der Wissenschaft. Es gibt nur jene Wahrheit, die sich am besten mit der aktuellen Datenlage deckt. Und was heute dem «neusten Stand der Technik» entspricht, kann in einigen Jahren völlig veraltet sein.

Wissenschaft lebt vom Wandel – und genau das macht die Kommunikation darüber so schwierig.

Verschiedene Welten

Der Kommunikationsstil von Politikern und Medienleuten verträgt sich nur bedingt mit der Komplexität wissenschaftlicher Fragen.

Politische Entscheidungsträger kümmern sich in der Regel nicht allzu sehr um wissenschaftliche Feinheiten. Eine Studie ist meist nur dann interessant, wenn sie die eigene Position stärkt; kritische Ergebnisse werden hingegen geflissentlich ignoriert. Auf dem Abstimmungszettel hat es schliesslich nur Platz für JA und NEIN – komplexe Erläuterungen stören da nur.

Auch viele Medien verstehen es meisterhaft, hochkomplexe Sachverhalte auf knallige, aber irreführende Schlagzeilen zu kondensieren, oftmals tatkräftig unterstützt von universitären Kommunikationsabteilungen. Das Endergebnis sieht dann ungefähr so aus:

[Bild the science news cycle; «Piled Higher and Deeper» by Jorge Cham, http://phdcomics.com/comics.ph...]

Zeit für etwas Selbstkritik

Ganz unschuldig daran sind aber auch die Wissenschafter nicht. Wir leben in einer Gesellschaft, die wesentlich auf wissenschaftliche Informationen vertraut, um Probleme zu lösen. Das Wort der Wissenschaft strahlt deshalb eine nicht zu unterschätzende Autorität aus.

Wenn Wissenschafter aber immer nur davon sprechen, was die Wissenschaft weiss, und niemals davon, was sie nicht weiss, dann schüren sie Erwartungen, die sie nicht erfüllen können.

Finger weg von Abstimmungsparolen

Die Vertreter der Wissenschaft sollten das Spiel von Politik und Medien deshalb nicht bedingungslos mitmachen und nicht auf Effekthascherei, Übertreibungen oder plumpe Abstimmungsparolen setzen, um ihre Erkenntnisse der Öffentlichkeit zu vermitteln. Eine solche Strategie mag zwar auf kurze Sicht verlockend erscheinen, doch langfristig erodiert sie das Vertrauen, das unsere Gesellschaft in die Wissenschaft setzt.

Vielmehr sollten sich Wissenschafter darum bemühen, ein Bewusstsein für die Komplexität ihrer Arbeit zu schaffen. Die Tatsache, dass wissenschaftliche Informationen eben nicht in Stein gemeisselt, sondern einem beständigen Wandel unterworfen sind, sollte auch in der Öffentlichkeit als Stärke und nicht als Mangel wahrgenommen werden.

Dieser Artikel ist am 13. Mai 2015 im Science-Blog von NZZ Campus erschienen.

Autor*innen

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Präsidium, Fundraising

Servan Grüninger ist Mitgründer und Präsident von Reatch. Er hat sein Studium mit Politikwissenschaften und Recht begonnen und mit Biostatistik und Computational Science abgeschlossen. Zurzeit doktoriert er am Institut für Mathematik der Universität Zürich in Biostatistik. Weitere Informationen: www.servangrueninger.ch.

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