Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Physiologie der Bewegung und Bewegungsstörung: Rolle der Neuroplastizität» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch.
Die Schweissperlen auf der Stirn, zittrige Hände am Bogen, das Herz rast, schon lange nicht mehr im Takt. Auf die Notenblätter schauen, nur spielen, dann ist es vorbei. Fürs nächste Mal muss sie unbedingt mehr üben, damit sie nicht erneut in Panik ausbricht beim Konzert.
Es war schon schwierig, sich für diese freie Stelle gegen die anderen 150 Geigerinnen1 zu behaupten. Mitglieder eines professionellen Orchesters müssen bei Aufführungen stets Höchstleistungen zeigen, hier darf sich niemand Fehler erlauben, man beobachtet einander genau. Wenn sie nichts taugt, kommt die nächste, bessere.
Übung macht die Meisterin – oder krank
Damit man gut ist, muss man üben. Damit man noch besser wird, muss man noch mehr üben, die Technik perfektionieren und besser sein als die anderen. Das erzeugt Druck und Stress. Für manche derart viel, dass sie in eine perfektionistische Abwärtsspirale geraten. Stupide wird hunderte Male dieselbe Stelle durchgespielt, um sie noch ein bisschen besser zu beherrschen.
Das ist nicht nur für die Psyche ungesund, sondern wirkt sich auch auf den Köper aus. Wer zu viel übt, kann beispielsweise eine «Musikerdystonie» entwickeln. Diese führt dazu, dass die Musikerin die feinmotorische Kontrolle über bestimmte Bewegungen verliert. Egal wie sehr der Kopf will, der Körper macht nicht mehr mit. Statt jeden Finger einzeln ansteuern zu können, schafft es die Musikerin nur noch, mehrere Finger gemeinsam zu bewegen. Aber wieso kann mehr Übung zu schlechterer Kontrolle führen?
Jedes Körperteil wird im Gehirn an einer bestimmten Stelle abgebildet. Die Areale der einzelnen Finger sind im Gehirn zwar getrennt, liegen aber besonders nahe beieinander. Durch das viele Üben vergrössern sich diese Gebiete und beginnen, sich zu überlappen. Das kann dazu führen, dass zum Beispiel eine Geigerin den Mittelfinger nicht mehr gezielt bewegen kann, egal wie sehr sie es versucht. Bewegt sie ihren Zeige- oder Ringfinger, verkrampft sich der Mittelfinger und kann nicht mehr zum Spielen benutzt werden. Das sorgt wenig überraschend für Stress und führt zu vermehrtem Üben, wodurch die Dystonie verstärkt wird. Ein Teufelskreis.
Botox wirkt nicht nur gegen Gesichtsfalten
Zur Behandlung einer Musikerdystonie stehen zwei Therapieformen zur Auswahl. Schnelle Linderung verspricht die Injektion von Botulinumtoxin, kurz «Botox». Dieses Nervengift wird zur Behandlung in einer geringen Dosis in jenen Muskel gespritzt, welcher dafür verantwortlich ist, dass sich der Mittelfinger verkrampft. Diese Stelle im Muskel wird durch das Nervengift gelähmt, was zur Entspannung führt. Der Finger wird wieder brauchbar. Allerdings lässt dieser Effekt mit der Zeit nach, sodass Betroffene alle paar Wochen beim Arzt Botox nachspritzen lassen müssen.
Die nachhaltigere Variante ist die des Einübens von neuen Bewegungsabläufen mittels Bewegungstherapien. «Retraining», auf Deutsch «Umlernen» nennt sich das. Dabei werden die richtigen Bewegungen in sehr langsamem Tempo trainiert, wobei dies auch mit positiven Emotionen verbunden sein soll, damit Betroffene wieder Freude an ihren Bewegungen und an der Musik bekommen. Diese Art von Behandlung dauert allerdings länger und kann sogar zu einem Berufsausfall von Monaten führen.
Vorbeugung ist die beste Therapie
Glücklicherweise nimmt die Anzahl der Neuerkrankungen stetig ab, was damit zusammenhängt, dass heute viel mehr Wert auf das richtige Üben beim Erlernen des Instruments im Musikunterricht oder im Studium gelegt wird. Und auch die Reduktion von Stress ist entscheidend, um Dystonien vorzubeugen.
Auch hier gibt es einen schnelleren und einen langsameren Weg: Aufgrund des grossen Leistungsdrucks ist es nicht unüblich, dass Musizierende bei psychischer Belastung zu Medikamenten greifen. Viele Solistinnen konsumieren gelegentlich Beruhigungsmittel, welche die unangenehmen Nebenwirkungen von Angst und Stress reduzieren sollen. Darunter fallen schlechte Atmung, Zittern, muskuläre Verkrampfung oder Schwitzen. Betreuende Ärztinnen verschreiben gerne solche Medikamente, um den Musikerinnen schlechte Erfahrungen zu ersparen und um zu verhindern, dass sie in eine Abwärtsspirale von Angst und Versagen kommen.
Langsamer, dafür nachhaltiger wird Stress bekämpft mit genügend Schlaf, gesunder Ernährung und einem guten Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit. Und es hilft, wenn Musizierende sich bewusst machen, dass nicht allein die richtige Note zum richtigen Zeitpunkt gespielt mit der richtigen Technik zählt, sondern dass das Konzertpublikum auch begeisterte Menschen auf der Bühne sehen will. Die Freude an der Musik vermitteln ist ein wichtiger Aspekt der musikalischen Arbeit, denn Musizieren ist emotionale Kommunikation.
Warum tun sich Musikerinnen das an?
Weshalb entscheiden sich Menschen für einen Beruf, indem psychische und körperliche Gebrechen sozusagen zum Berufsrisiko gehören und Stress ein ständiger Begleiter ist? Die Antwort ist simpel: Für die Berufsmusikerin stehen normalerweise nicht die Belastungen und der Stress, sondern die Freude an der Musik im Vordergrund. Das merkt man auch bei Eckart Altenmüller.
Der Professor für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover ist ein passionierter Flötist. Fragt man ihn, was ihn am Musizieren erfreut, so leuchten seine Augen auf, seine Stimme hebt sich. Er erzählt von Orchestermitgliedern, die bereits als Kleinkind einen Sinn für Klänge entwickelten. Von Landesjugendorchestern, in denen das Mitwirken am Gesamtklang überwältigend ist, auch wenn das eigene Instrument oft pausieren muss. Vom Wunsch, Menschen mit Musik zu begeistern.
Viele Musikerinnen verspüren von klein auf den Drang, eine Bühne zu betreten, und möchten andere Leute mit ihrer Musik beschenken. Berufsmusikerinnen lernen ein Leben lang immer wieder neue Musikstücke, angespornt durch ihre eigene Motivation. Und da sie dadurch immer besser werden, Fortschritte in Spieltechnik, Bühnenpräsenz und geistiger Durchdringung der Musik machen, erfahren sie eine tiefe emotionale Befriedigung, welche die körperlichen und psychischen Entbehrungen mehr als aufzuwiegen vermag.
1 Der besseren Lesbarkeit halber wird im Artikel die weibliche Form verwendet, womit stellvertretend alle Geschlechter gemeint sind.
Den Original-Beitrag gibt es hier zu lesen.
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