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Grundrechte und Rechtspersönlichkeit für nicht-menschliche Wesen am Beispiel der Reuss

Noch sind nicht-menschliche Wesen vom Rechtssystem unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Als Nicht-Personen können sie kein Gericht anrufen. Es ist Zeit, eine weitere wichtige Gruppe unserer Gesellschaft unter den Schutz der Verfassung zu stellen.

Dieser Text ist im Rahmen des Reatch Ideenwettbewerbs 2023 entstanden. 2023 war ein besonderes Jahr für die Schweiz: Wir feierten 175 Jahre Bundesverfassung und damit 175 Jahre Schweizer Bundesstaat. Das nahmen wir zum Anlass, um nach Ideen für die Zukunft der Schweiz zu suchen. Welche Weichen müssen wir heute stellen, damit im Jahr 2198 die Menschen mit dem gleichen Stolz auf 2023 zurückblicken, wie wir heute auf die Entwicklungen seit 1848? Eine Auswahl der eingereichten Ideen wird auf www.reatch.ch veröffentlicht.

Die Verfassung von 1848 hat vielen Mitgliedern unserer Gesellschaft zum ersten Mal Grundrechte eingeräumt, welche ihre Stellung in der Rechtsordnung verbesserten. Allerdings dauerte es lange bis der Kreis jener, welche von den Verfassungsrechten profitierten, erweitert wurde. Seien es arme Menschen, die keine Steuern bezahlen konnten, seien es Juden oder Frauen; ihre Rechte mussten über Jahrzehnte erkämpft werden. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen. Noch sind nicht-menschliche Wesen vom Rechtssystem unserer Gesellschaft ausgeschlossen. Als Nicht-Personen können sie kein Gericht anrufen. Es ist Zeit, eine weitere wichtige Gruppe unserer Gesellschaft unter den Schutz der Verfassung zu stellen. Denn die schweizerische Rechtsordnung ist in Bezug auf nicht-menschliche Naturwesen eine Unrechtsordnung. Nicht-menschlichen Wesen müssen eine Rechtspersönlichkeit und Grundrechte zugestanden werden. So werden die Weichen gestellt, damit im Jahr 2048 die Menschen mit Stolz auf die heutige grundlegende Weiterentwicklung der Verfassung zurückblicken. Dies soll am Beispiel der Reuss exemplarisch umgesetzt werden.

Die Idee

Die Schweiz steht vor enormen umweltpolitischen Herausforderungen als Folge von Biodiversitäts-, Ernährungs- oder Klimakrise, um nur einige Brandherde zu nennen. Um diese zu bewältigen, braucht es die Integration aller Mitglieder unserer Gesellschaft. Wesentliche Teile unserer Gesellschaft sind keine Menschen. Diese Naturwesen haben keine Grundrechte. Zudem haben sie keine Rechtspersönlichkeit, um allfällige Rechte zu verteidigen.

Das «Recht auf Rechte» wie es Hannah Arendt nannte, ist jedoch ein zentrales Element der Teilhabe an einer Gesellschaft.

Auf den ersten Blick könnte man denken, dass eine Weiterentwicklung und Verbesserung der Umweltgesetzgebung die gleichen Ziele erreicht. Das ist ein fundamentaler Irrtum. Denn – dies hat Hannah Arendt glasklar erkannt – es nützen die besten Grundrechte nichts, wenn man sich nicht selbst darauf berufen kann; wenn man von der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen wird. Eine eigene Rechtspersönlichkeit zu haben, ist von zentraler Bedeutung, um seine Rechte durchsetzen zu können.

Dass den Naturwesen Unrecht geschieht, ist erst am Rande der Gesellschaft zur Gewissheit geworden. Nur so ist zu erklären, dass ein solch ungerechtes Rechtssystem, welches nicht einmal versucht, Gerechtigkeit zu erwirken, weiterhin Bestand hat. Ein Rechtssystem verdient diesen Namen jedoch nur, so Gustav Radbruch, wenn es dem Sinn nach versucht der Gerechtigkeit zu dienen. Insofern ist unser heutiges Rechtssystem ein Unrechtssystem, welches dringend reformiert werden muss.

Der Begriff «Unrechtssystem» mag aus einer anthropozentrischen Perspektive irritieren – aber gerade diese gilt es zu überwinden. Wird ein Perspektivenwechsel vorgenommen, irritiert der Begriff nicht. Ein Gedankenexperiment mag dies verdeutlichen, wenn man sich rund 200 Jahre zurückversetzt, als die Sklavenhaltung noch gesellschaftlich akzeptiert war. Das Rechtssystem legalisierte die Ausbeutung der Sklaven. Aus Sicht der herrschenden Bevölkerung war dies kein Unrechtssystem. Aber aus heutiger Sicht und, dies ist der entscheidende Punkt, auch aus damaliger Sicht der vom Unrecht betroffenen Sklaven, war es ein Unrechtssystem.

Nur auf der Grundlage eines gerechten Rechtssystems, das von allen Gesellschafts­mitgliedern als gerecht empfunden wird, ist die Schweiz für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet.

Die Umsetzung

Aus theoretischer Sicht ist die Einführung einer gerechten Verfassung, welche auch die Grundrechte nicht-menschlicher Wesen berücksichtigt und diesen eine Rechtspersönlichkeit verschafft, offensichtlich, wenn man John Rawls Verfassungsgebung unter dem Schleier des Nichtwissens zugrunde legt. Wobei man die von Tom Reagan weiterentwickelte Variante anwenden muss, bei welcher die Verfassungsgebenden hinter dem Schleier des Nichtwissens nicht nur keine Ahnung von ihrem Geschlecht, ihrer sozialen Stellung, oder ihrer Hautfarbe. Sie wissen auch nicht, ob sie unter der neuen, von ihnen geschaffenen Verfassung als menschliche oder nicht-menschliche Wesen leben werden müssen.

Allerdings ist die Zuordnung von Rechtspersönlichkeit und Grundrechten in einer Demokratie nur durch Mehrheitsbeschlüsse zu entscheiden. Das heisst, es ist ganz entscheidend für die Umsetzung dieser Idee, wie diese vom Rand der Gesellschaft in die Mitte der Gesellschaft vordringen kann und wie sie, dort angekommen, konkret umgesetzt werden könnte.

In einer Demokratie steht am Anfang einer entsprechenden Weichenstellung in allen relevanten Bereichen, das Schaffen von Bewusstsein. Es muss sowohl die Ungerechtigkeit und die Chance von Gerechtigkeit erkannt werden als auch ein Verständnis für die vorgeschlagene Lösung. Das ist komplex.

In einem ersten Schritt kann der Versuch unternommen werden, einem wichtigen Fluss in der Schweiz, der Reuss, Grundrechte und Rechtspersönlichkeit im Kanton Luzern zu verschaffen, indem mit einer Initiative das Volk zur Urne gerufen wird, um darüber zu entscheiden. Damit wird mit beschränkten und bewährten Mitteln ein Problembewusstsein bei einer breiteren Bevölkerung geschaffen. Dies gelingt nur, wenn politische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Exponentinnen und Exponenten an Bord geholt werden.

Und es könnte gelingen, weil es bereits Gewässer gibt, die solche Rechte haben, wie zum Beispiel der Whanganui Fluss in Neuseeland oder für deren Rechte gekämpft wird, wie zum Beispiel europäische Gewässer, die sich in der Organisation Confluence of European Water Bodies zusammengeschlossen haben.

Die Rolle der Wissenschaften

Für die Umsetzung dieser Idee sind sowohl die Soziologie, die Rechtswissenschaft als auch die Ingenieurswissenschaften gefordert.

Soziologisch interessante Fragestellungen drehen sich um die Erfolgsfaktoren, welche Ideen eigen sind, die den Weg vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft schaffen und so Veränderungen nicht nur anstossen, sondern auch bewirken können.

Aus rechtsphilosophischer und rechtssoziologischer Sicht interessant ist die Frage, wie ein System der hybriden Persönlichkeiten ausgestaltet werden kann, um eine gerechte Repräsentation nicht-menschlicher Wesen sicherzustellen.

Schliesslich wäre es experimentell spannend, im Rahmen der Ingenieurswissenschaften mithilfe modernster Kommunikationstechnologie einen experimentellen Schleier des Nichtwissens herzustellen. Zu denken ist an Versuchsanordnungen, bei welchen künstliche Intelligenz mit virtueller Realität kombiniert wird, welche Versuchspersonen in die Situation versetzt, andere Perspektiven einzunehmen und unter diesem Einfluss Entscheidungen zu fällen.

Wer muss mitziehen?

Naheliegend ist, dass neben Universitäten, auch Umweltverbände (Greenpeace, WWF, Pro Natura usw.) und Parteien, welche sich Anliegen der Natur auf die Fahne geschrieben haben, mitziehen. Zudem dürften sich ausgewählte Vereine und Stiftungen, welche sich für Nachhaltigkeit und Tierrechte einsetzen (Sentience Politics, AnimalRights Switzerland, Tier im Fokus usw.) für ein solches Projekt interessieren. Wichtig wäre es aber auch Gemeinden zu involvieren, durch welche die Reuss fliesst.

Schlussbemerkungen

Entscheidend für das Projekt ist, dass der Bevölkerung ein Verfassungsartikel zur Diskussion vorgelegt wird, welcher der Natur einen völlig neuen Status verleihen würde – einen Status, der es der Natur erlauben würde, die eigenen Interessen durchzusetzen. Es werden deshalb die folgenden Verfassungsartikel vorgeschlagen:

§ 10 Abs. 3 KV (neu)

Die Rechte nicht-menschlicher Naturpersonen sind zu achten und zu schützen.

§ 10bis KV (neu) Schutz der nicht-menschlichen Naturperson „Reuss“

1 Die Reuss hat das Recht, als hybride Persönlichkeit im Rechtssystem die eigenen Interessen zu vertreten.

2 Die Reuss hat das Recht auf körperliche Unversehrtheit insbesondere auf sauberes Wasser.

3 Jede grausame oder erniedrigende Behandlung einer Naturperson in und an der Reuss ist verboten. Deren Recht auf körperliche Unversehrtheit ist zu achten.

Quellen und weiterführende Literatur

Arendt, Hannah: Es gibt nur ein einziges Menschenrecht, in: Die Wandlung 4/1949, S. 754 ff.

Burgers, Laura / Den Outer, Jessica: Das Meer klagt an! Der Kampf für die Rechte der Natur, Stuttgart, 2023

Blattner, Charlotte E. / Donaldson, Sue / Wilcox, Ryan: Animal Agency in Community, A Political Multispecies Ethnography of VINE Sanctuary, in: Politics and Animals Vol. 6, 2020, S. 1 ff.

Fischer-Lescano, Andreas: Natur als Rechtsperson, Konstellationen der Stellvertretung im Recht, Bremen 2018, https://intr2dok.vifa-recht.de...(besucht am: 19.1.2024)

Gruber, Malte-Christian: Rechtsschutz für nichtmenschliches Leben, Der moralische Status des Lebendigen und seine Implementierung in Tierschutz-, Naturschutz- und Umweltrecht, Baden-Baden 2006

Kersten, Jens: Natur als Rechtssubjekt. Für eine ökologische Revolution des Rechts, in: APuZ 11/2020, S. 27 ff.

Latour, Bruno: Esquisse d’un parlement des choses, in: Écologie & politique No 56/2018, S. 47 ff.

Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, 10. Aufl., Frankfurt am Main 2017

Radbruch, Gustav: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: Süddeutsche Juristenzeitung 1946, S. 105 ff.

Rawls, John: Gerechtigkeit als Fairness, Ein Neuentwurf, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2014

Regan, Tom: The case for animal rights, Berkeley/Los Angeles 2004

Schärli, Markus: Bruder Berg und Schwester Schwein, 2021, <https://www.republik.ch/2021/08/04/bruder-berg-und-schwester-schwein> [besucht am 19.1.2024]

Schärli, Markus: Exklusion durch Definition der Inklusion. Das „Recht auf Rechte“ nicht-menschlicher Naturpersonen, in: Klaus Mathis (Hrsg.): Inklusion - Exklusion. Interdisziplinäre Perspektiven auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen, Duncker und Humblot (im Erscheinen 2024)

Stucki, Saskia: Grundrechte für Tiere, Baden-Baden 2016 [Diss. 2015].

Autor*innen

Markus Schärli ist Ökonom (Dr.rer.pol) und war u.a. als Wirtschaftsjournalist für Presse, Radio und Fernsehen tätig. Aktuell studiert er Recht an der Universität Luzern und ist seit gut einem Jahr als Gerichtsreporter für die Republik tätig. Er ist Präsident des Vereins „Rechtsperson Reuss“, welcher Grundrechte und Rechtspersönlichkeit für die Flusslandschaft der Reuss fordert.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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