Depression

Depression – eine Frauenkrankheit?

Laut Statistiken sind Depressionen bei Frauen häufiger als bei Männern. Dafür sind die Suizid-Zahlen bei Männern deutlich höher. Die Gründe dafür sind vielseitig. Aber mögliche Lösungen sind greifbar.

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Geschlecht, Geschlechtsrollenverhalten und gesellschaftliche Entwicklung» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Der folgende Artikel beruht auf einem im Rahmen der genannten Akademie abgehaltenen Vortrag von Prof. Dr. Anita Riecher-Rössler, emeritierte Ordinaria für Psychiatrie der Universität Basel und Chefärztin an den Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel.

Psychische Erkrankungen sind immer noch ein Tabu - aber vielleicht nicht mehr lange. Prominente sprechen offen über ihre Beschwerden, im Freundeskreis wird rege über Gefühle diskutiert und eine Kampagne [1] der Gesundheitsförderung Schweiz fragt: «Wie geht’s dir?» Dieser offene Umgang mit unserer psychischen Gesundheit ist bitter nötig. Die Wahrscheinlichkeit, einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung zu leiden ist hoch, Depressionen gehören zu den häufigsten Krankheiten in der Schweiz [2] und jedes Jahr nehmen sich gut tausend Personen das Leben [3].

Auffällig sind die Geschlechterunterschiede in den Statistiken: Während Frauen häufiger an Depressionen zu leiden scheinen, sind die Zahlen bei männlichen Suiziden deutlich höher.

Frauendepression: biologische oder soziale Gründe?

Verschiedenste Studien sind sich einig ([4], [5], [6]): Frauen leiden öfter an Depressionen als Männer. Die Gründe dafür sind vielseitig. Ein Blick in die Biologie zeigt, dass Gene und Hormone allein das grössere Depressionsrisiko der Frau nicht erklären können. So sind der Forschung zurzeit keine geschlechtsspezifischen Gene bekannt, die das Depressionsrisiko von Männern und Frauen unterschiedlich beeinflussen [7]. Und auch dafür, allein die Hormone als Schuldige abzustempeln, liessen sich keine überzeugenden Beweise finden. So wirkt das weibliche Sexualhormon Östrogen eigentlich eher stimmungsstabilisierend [8].

Deshalb fokussiert die Forschung immer mehr auf psychosoziale Faktoren. Denn neben biologischen Voraussetzungen spielt vor allem die soziale Situation eine grosse Rolle für unsere psychische Gesundheit. Als typische Risikofaktoren für Depression gelten bei Frauen: ein niedriger sozioökonomischer Status, ein niedriges Bildungsniveau, geringe soziale Unterstützung, die Versorgung pflegebedürftiger Angehöriger und Rollenkonflikte [7]. All diese Faktoren treten vor allem dann auf, wenn sich Frauen in traditionellen Haushalten wiederfinden; in Ländern, in denen traditionelle Geschlechterrollen sich verringern, schwinden auch die Geschlechterunterschiede bei den Depressionsstatistiken [4]. Durch abhängige Beziehungsstrukturen – sei es nun auf der Arbeit oder im Privatleben - können Frauen nur wenig kontrollieren und beeinflussen [9]. Ein oftmals niedriger beruflicher Status verschafft nur wenig Anerkennung und selbst für gleiche Arbeit erhalten Frauen in vielen Fällen nicht den gleichen Lohn [10]. Zusätzlich fühlen sich Frauen oft stark verantwortlich für Probleme anderer [10] und mühen sich ab, den Rollen Hausfrau, Ehefrau und Mutter gerecht zu werden. Das führt häufig zu Rollenkonflikten, die als Depressionsauslöser wirken können [9].

Ausserdem reagieren Frauen anders auf Stress, der als häufiger Auslöser für Depressionen gilt. Wenn es zum Beispiel in ihrem sozialen Umfeld zu Konflikten kommt, zeigen Frauen stärkere psychobiologische Reaktionen als Männer, z.B. eine höhere Hirnaktivität oder eine höhere Kortisol-Ausschüttung bei emotionalen Reizen [7], die zusätzlich meist auf die eigene Person gerichtet sind. Frauen geben sich häufig selbst die Schuld, grübeln oder denken immer wieder über Vergangenes nach [9]. Verhaltensweisen, die eine Depression begünstigen können.

Depression bei Frauen, Suizid bei Männern

Die Zahlen bei den Männern sind paradox: trotz niedrigerer Depressionsraten ist die Zahl an Suiziden deutlich höher [3]. Das erstaunt vor allem dann, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass in den meisten Fällen psychische Erkrankungen wie z.B. die Depression zu Suiziden führen [7]. Handelt es sich bei den höheren Depressionszahlen der Frauen um einen bloss scheinbaren Unterschied?

Bekannt ist, dass Frauen ihre depressiven Symptome besser wahrnehmen als Männer. Sie können sich an Gefühle erinnern und sind geübt darin, diese anderen mitzuteilen. Die Hemmschwelle, sich an Stellen zu wenden, wo sie Hilfe finden, ist bei Frauen deshalb niedrig [12]. Bei vielen Männern kommt es erst gar nicht so weit – über psychische Probleme zu sprechen und Hilfe zu suchen entspricht oftmals leider nicht dem Stereotyp eines «richtigen Mannes» [7]. Emotionale Probleme werden deshalb vielfach verdrängt. Schaffen sie es doch, sich Hilfe zu holen, ist die Schwelle zu einer Depressionsdiagnose für Männer deutlich höher als für Frauen [13]. Denn als typische Symptome für eine Depression gelten Verhaltensweisen, die vor allem bei einer «weiblichen Depression» auftauchen: Antriebslosigkeit, depressive Verstimmung, Grübeln, Selbstvorwürfe [7, 14]. Eine Depression kann sich bei Männern jedoch ganz anders äussern. Männer reagieren typischerweise mit dem Abstreiten von auftauchenden Symptomen wie sozialem Rückzug und Traurigkeit, arbeiten exzessiv oder treiben übermässig viel Sport, üben auffällig viel Selbstkritik, sind feindselig und zeigen einen erhöhten Alkoholkonsum und Unruhe [7]. Suchterkrankungen und Alkoholmissbrauch überdecken deshalb oftmals eine Depression [9].

Die hohen Suizid-Zahlen lassen sich mit der Art und Weise, wie Männer mit ihrer Depression umgehen, erklären. Auch bei Frauen ist die Anzahl Suizidversuche nämlich hoch – allerdings bleibt es bei Frauen oftmals beim Versuch. Sie wählen im Unterschied zu Männern weniger drastische Mittel, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Das hängt damit zusammen, dass Männer oftmals nach dem Prinzip fight-or-flight auf Stress reagieren und gleichzeitig Verhaltensweisen für die Lösung ihrer Probleme wählen, die ein grosses Risiko an Selbst- oder Fremdschädigung innehaben – im extremsten Fall ist dies der Suizid [3].

Ein Problem in punkto Depression besteht also auf beiden Seiten: einerseits ist das Depressionsrisiko bei Frauen höher als bei Männern, andererseits bleiben Depressionen bei Männern oft unerkannt.

Was noch ist, kann anders werden

Um diesen beunruhigenden Tendenzen langfristig entgegenzuwirken, müssen neben Lösungsansätzen für bestehende Probleme vor allem nachhaltige Veränderungen in der Gesellschaft angestrebt werden.

Das Problem der unterschiedlichen Schwelle von Depressionsdiagnosen bei Frauen und Männern kann rasch beseitigt werden, wenn männerspezifische Symptome berücksichtigt und damit auch «männliche» Depressionen erkannt und behandelt werden. So liessen sich einerseits einige leider meist «erfolgreichere» Suizidversuche von Männern möglicherweise verhindern, andererseits würden die Statistiken nicht mehr durch unentdeckte männliche Depressionen verfälscht.

Bei der Herausforderung des abweichenden Hilfesuchverhaltens von Männern wird es wohl nicht ganz so einfach. Denn dort müssen wir am männlichen Stereotyp arbeiten, ein gesellschaftliches Umdenken weiterführen, dass bereits angelaufen ist. Auch ein «richtiger Mann» darf Gefühle zulassen, über sie sprechen und er soll darin unterstützt werden, sich im Ernstfall professionelle Hilfe zu holen.

Das Aufbrechen traditioneller Rollen kommt auch den Frauen zugute. Denn auf die psychische Gesundheit vieler Frauen kann es sich ebenfalls positiv auswirken, wenn Forderungen nach mehr Gleichheit eingelöst werden. Der Kampf gegen Unterdrückung und Missbrauch, Lohngleichheit, mehr Anerkennung für Hausarbeit und Möglichkeiten Familie und Beruf besser zu vereinen – alles Anstrengungen der Gleichberechtigungsbewegung, die typische Depressionsrisiken für Frauen vermindern würden.

Neben zahlreichen anderen Vorteilen könnte ein Überdenken traditioneller Rollen und mehr Gleichheit zwischen den Geschlechtern die psychische Gesundheit aller verbessern.

Den Original-Beitrag gibt es hier zu lesen.

Referenzen

[1]

Trägerschaft Wie geht’s dir-Kampagne (2020). Wie geht’s dir? (https://www.wie-gehts-dir.ch/de/, aufgerufen am 16.04.2020)

[2]

Bundesamt für Statistik (2017). Krankheiten (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/krankheiten.html, aufgerufen am 16.04.2020).

[3]

Bundesamt für Statistik (2017). Spezifische Todesursachen (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/gesundheit/gesundheitszustand/sterblichkeit-todesursachen/spezifische.html, aufgerufen am 16.04.2020).

[4]

Seedat S., Scott KM, Angermeyer MC, Berglund P., Bromet EJ, Brugha TS, Demyttenaere K., de Girolamo G., Haro JM, Jin R., Karam EG, Kovess-Masfety V., Levinson D., Medina Mora ME, Ono Y., Ormel J., Pennell BE, Posada-Villa J., Sampson NA, Williams D., Kessler RC (2009). Cross-national associations between gender and mental disorders in the World Health Organization World Mental Health Surveys. Arch Gen Psychiatry 66(7): S. 785–795.

[5]

Gutierrez-Lobos, K. Wölflie, G. Scherer, M., Anderer, P. & Schmidth-Mohl, B. (2000). Gender gap in depression – marital und employment status. Social Psychiatry Epidemiology, 35: 202-210.

[6]

Wolfersdorf, M., Schulte-Wefers, H., Straub, R., Klotz, T. (2006). Männer-Depression: Ein Vernachlässigtes Thema – ein therapeutisches Problem. Blickpunkt DER MANN, 4 (2): 6-9.

[7]

Möller-Leimkühler, A.M. (2008). Depression – überdiagnostiziert bei Frauen, unterdiagnostiziert bei Männern? Der Gynäkologe, 41(5), S. 381-388.

[8]

Bergemann N., Riecher-Rössler A. (2005). Estrogen effects in psychiatric disorders. Springer, Wien, New York.

[9]

Riecher-Rössler, A. (2016). Weibliche Rollen und psychische Gesundheit. In: B. Wimmer-Puchinger, K. Gutiérrez-Lobos, & A. Riecher-Rössler (Hrsg.): Irrsinnig weiblich - Psychische Krisen im Frauenleben (pp. 19-34). Springer, Berlin, Heidelberg.

[10]

Bundesamt für Statistik (2016). Monatlicher Bruttolohn nach beruflicher Stellung und Geschlecht (https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/arbeit-erwerb/loehne-erwerbseinkommen-arbeitskosten/lohnniveau-schweiz/lohnunterschied.html, aufgerufen am 16.04.2020)

[11]

Rudolf, G. (2002). Gibt es nachweisbar Einflüsse der Geschlechtszugehörigkeit in der Psychotherapie? In: Schweizer Charta für Psychotherapie, Fortbildungsausschuss (Hrsg) Mann oder Frau? Wie bestimmend ist das Geschlecht in der psychotherapeutischen Perspektive? Edition Diskord, Tübingen.

[12]

Riecher-Rössler, A., Bitzer, J. (2005). Epidemiologie psychischer Störungen bei Frauen. In: Riecher-Rössler A., Bitzer, J. (Hrsg). Frauengesundheit. Ein Leitfaden für die ärztliche und psychotherapeutische Praxis. Elsevier, Urban & Fischer, München, Jena, S. 21–29.

[13]

Swami V. (2012). Mental health literacy of depression: gender differences and attitudinal antecedents in a representative British sample. PloS one 7(11): e49779.

[14]

Nolen-Hoeksema, S. (2006). Warum Frauen zu viel denken. Wege aus der Grübelfalle. München: Heyne.

Autor*innen

Olivia Meier

Autor*in

Olivia Meier studierte Germanistik sowie TAV - Theorie, Analyse, Vermittlung im Master an der Universität Zürich und arbeitete als wissenschaftliche Assistentin am Departement für Angewandte Linguistik der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Inzwischen ist sie im Kommunikationsbereich tätig. Sie ist erweitertes Vorstandsmitglied von Reatch und betreut den Reatch-Blog.

Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.

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