Dieser Artikel wurde in gekürzter Version als Zuschrift in der NZZ vom 17. März 2021 veröffentlicht.
Die Rollen sind in Angelika Hardeggers jüngst erschienenem Kommentar klar verteilt: Hier die elitistischen und emotionslosen Forschenden, welche die Notwendigkeit von «Furor» für den Fortschritt partout nicht erkennen wollen. Dort das weitsichtige Schweizer Volk, das mittels Volksabstimmungen «nach einer Art Falsifikationsprinzip» vorgehe und «eigentlich beste wissenschaftliche Praxis» betreibe.
Dass auch Menschen mit wissenschaftlicher Ausbildung ein Teil dieses Volks sind, wird dabei ebenso ausgeblendet wie der Umstand, dass der überwiegende Teil der Schweizer Demokratie nicht aus Volksabstimmungen, sondern aus politischer Knochenarbeit in kommunalen, kantonalen und nationalen Parlamenten und Exekutiven besteht und dabei auch - aber natürlich nicht nur - auf wissenschaftliche Informationen angewiesen ist.
Demokratische Entscheide - und die bestehen eben nicht nur aus Volksabstimmungen, sondern auch aus Beschlüssen von Parlamenten oder Exekutiven - bilden dabei den Rahmen für die Tätigkeit von vielfältigen themenspezifischen Expertenkommissionen, welche wiederum mit ihrer Arbeit Grundlagen schaffen für künftige demokratische Entscheide.
Die Schweiz ist damit nicht nur das Land vierteljährlicher Volksentscheide, sondern auch jenes der Expertenkommissionen, in denen wissenschaftliche Expertise aufbereitet und für die Politik nutzbar gemacht wird. Wir sind bis jetzt sehr gut damit gefahren, die Zulassung von Medikamenten, die Überprüfung der Grundwasserqualität oder die Kontrolle der Stromnetzstabilität in die Hände von Expert*innen zu legen - immer im Rahmen eines demokratisch legitimierten Gesetzesauftrags, versteht sich.
Für diese Kombination aus (direkt)demokratischer Legitimation und wissenschaftlicher Expertise sprechen mindestens zwei Dinge: Die Praktikabilität der Umsetzung und die Wirksamkeit der Lösungen. Man stelle sich vor, die Schweizer Bevölkerung müsste über die Zulassung jedes einzelnen Medikaments an der Urne abstimmen. Das wäre nicht nur logistisch kaum zu bewerkstelligen, sondern würde auch bedingen, dass sich jeder Einzelne von uns intensiv mit biologischen, statistischen und medizinischen Detailfragen beschäftigt, um die Patientensicherheit zu gewährleisten.
Doch die bewährte Arbeitsteilung scheint ins Stocken zu geraten. Im Zuge der Corona-Krise haben einige wissenschaftliche Berater*innen des Bundesrates recht unverfroren Kritik an politischen Entscheiden geübt, während gewisse Politiker*innen jüngst versucht haben, ein fixes Öffnungsdatum für Restaurants ins Gesetz zu schreiben - so als liesse sich das Ende der Pandemie per Parlamentsbeschluss bestimmen. Das passiert, wenn die Welten von Politik und Wissenschaften aufeinanderprallen, ohne dass eine gemeinsame Vorstellung darüber besteht, wie eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im konkreten Fall aussehen soll.
Voraussetzung für eine solche gemeinsame Vorstellung ist gegenseitiges Verständnis. Kurz: Für effektive Lösungen braucht es nicht nur Politiker*innen, die etwas von Wissenschaften verstehen, sondern auch Wissenschaftler*innen, die eine Ahnung von Politik haben. Hier setzt das soeben lancierte «Franxini-Projekt» der wissenschaftlichen Ideenschmiede «Reatch» an. Reatch setzt sich nicht nur dafür ein, dass wissenschaftliche Informationen in gesellschaftspolitischen Debatten gehört werden, sondern auch dafür, dass Forschende auf Augenhöhe mit den anderen Debattenteilnehmern interagieren. Dazu gehört unter anderem die triviale Einsicht, dass auch nicht-wissenschaftliche Perspektiven politisch Einfluss nehmen dürfen und dass man auch als Wissenschaftler überzeugende Gründe liefern muss, um einen Anspruch auf gesellschaftliche Gültigkeit der eigenen Empfehlungen erheben zu können.
Mit dem Franxini-Projekt wollen wir Forschende zu «Citoyens» machen, zu «Staatsbürgern» im rousseauschen Sinne: Gleichberechtigte Mitglieder des Souverän, welche ihr politisches Handeln in den Dienst des Gemeinwohls stellen. Wissenschaftler und Politiker mögen in unserer Gesellschaft ganz unterschiedliche Rollen erfüllen. Doch als Citoyens sind die Mitglieder beider Gruppen gleichermassen dem allgemeinen Willen des Souveräns unterworfen und haben damit nicht nicht nur das Recht auf gleichberechtigte Mitbestimmung, sondern auch die Pflicht, sich - unter Berücksichtigung ihrer unterschiedlichen Aufgaben - für das Gemeinwohl einzusetzen. Wenn Angelika Hardegger schreibt, dass «Politisierung [...] eine Wahl [erfordert]», dann sollten auch Forschende ihre Empfehlungen zur Wahl stellen dürfen, ohne sich damit gleich den Vorwurf einzuhandeln, «dem Volk zu misstrauen».
Umso erstaunlicher ist es, dass Frau Hardegger beim Franxini-Projekt den Eindruck bekommt, es sei «kaum genug Zeit [...] für eine Debatte mit allen.» Schliesslich ist es das erklärte Ziel dieses Projekts, demokratische Debatten zu fördern und dafür zu sorgen, «dass sich Wissenschaften und Politik verstehen», statt aneinander vorbeizureden.
Die Uhr tickt: Ob Corona, Klima oder die Transformation der Arbeitswelt - um gesellschaftliche Herausforderungen zu meistern, müssen Forschende und Politiker*innen konstruktiv zusammenarbeiten. Damit das klappt, braucht es aber nicht nur Politiker*innen, die eine Ahnung von Wissenschaft haben, sondern auch Forschende, die etwas von Politik verstehen.
Doch die meisten Wissenschaftler*innen sind politische Laien. Werden sie in politische Debatten hineingezogen, dann treten sie oft in mediale Fettnäpfchen, sind zu übereifrig, engstirnig, zaghaft, oder lassen sich instrumentalisieren. Damit ist weder Politik noch Wissenschaft gedient.
Das Franxini-Projekt sorgt dafür, dass sich Wissenschaften und Politik verstehen.
Weitere Informationen zum Projekt finden sich hier.
Die Beiträge auf dem Reatch-Blog geben die persönliche Meinung der Autor*innen wieder und entsprechen nicht zwingend derjenigen von Reatch oder seiner Mitglieder.
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