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Danach ist Davor: Eindrücke aus einer Sommerakademie

Vom Vorspiel auf dem Theater bis zur Vorgeschichte der Ukrainekrise drehte sich bei einer der Sommerakademien der Schweizerischen Studienstiftung 2022 alles um das Davor. Dabei wurde aus verschiedensten Blickwinkeln betrachtet, wie schön und wichtig die Vorwegnahme sein kann!

Das Saallicht wird zu einem dumpfen Schimmern gedimmt, nur die Bühne bleibt hell erleuchtet. Das Publikum rutscht noch ein wenig auf den Stühlen herum und kommt dann zur Ruhe. Schon bald ist der ganze Saal erfüllt vom Quietschen, Sägen und Ächzen der Orchesterinstrumente.

Ohne das Stimmen der Instrumente würde ein Konzert ganz und gar nicht harmonisch verlaufen. Ausserdem richtet das Publikum seine Aufmerksamkeit auf das gleich beginnende Konzert und wird dabei geradezu «mit(ein)gestimmt». In diesem Moment sind alle gespannt auf das, was kommen wird – alle sind im Davor.

Die Antizipation, also die Vorwegnahme zukünftiger Ereignisse, ist eine besondere Eigenschaft des Menschen. Auch andere Tiere sind zur Antizipation fähig; beispielsweise unterbricht eine Gazelle das Grasen und flieht, wenn sie ein Knacken im Unterholz hört – vermutlich, weil sie antizipiert, dass ein Löwe sie gleich angreifen könnte [1]. Allerdings ist es eindeutig, dass der Mensch am besten darin ist, komplexe zukünftige Ereignisse vorherzusagen [2].

Es erstaunt deshalb nicht, dass sich viele menschliche Gedanken um das drehen, was noch kommen mag. WissenschaftlerInnen konnten zum Beispiel zeigen, dass die an der Antizipation beteiligten Gehirngebiete sogar im Ruhezustand aktiviert sind. Also denken wir wohl häufig an die Zukunft, wenn wir sonst keine Aufgabe zu erledigen haben [3].

Das Davor in Politik und Wirtschaft

Marketingstrategen, Grossinvestoren und Aufsichtsbehörden versuchen ständig, den nächsten Trend zu antizipieren oder die Reaktionen des Marktes abzuschätzen. Damit soll der Ertrag verbessert oder eine problematische Wirtschaftslage vermieden werden. Mit sehr komplexen Modellen wird beispielsweise versucht, die Wahrscheinlichkeit von bestimmten ökonomischen Ereignissen zu berechnen [4]. Doch häufig stossen auch diese Modelle an ihre Grenzen, zum Beispiel, wenn es um die Vorhersage von Rezessionen geht [5] – im Davor kann eben nie genau bestimmt werden, was im Danach passieren wird. Ähnlich schwer fällt es der politischen Wahlforschung, zukünftige Abstimmungsresultate vorherzusagen. Die Meinung der Bevölkerung wird zwar mit Umfragen im Vorfeld gemessen. Aber die Veröffentlichung der Umfrageresultate kann die Entscheidungen der WählerInnen beeinflussen und so wiederum die Wahlergebnisse verändern [6]. Dieser Rattenschwanz zeigt, wie sensibel das Davor auf alles ist, was wir wahrnehmen.

Ein künstlerisches Davor

KünstlerInnen nutzen die menschliche Fähigkeit zur Antizipation, indem sie ihren Werken Einleitungen voranstellen: Vorworte, Vorspiele, Vorreden und Vorspanne zielen alle darauf hin, das Publikum in das nachfolgende Kunstwerk einzustimmen – sei es ein Musikstück, ein Buch oder ein Film.

Sören Kierkegaard, ein dänischer Philosoph und Schriftsteller, schrieb dazu im Jahre 1844: «Ein Vorwort ist Stimmung. Ein Vorwort schreiben heisst gleichsam die Sense wetzen, gleichsam die Guitarre stimmen, gleichsam mit einem Kinde plaudern, gleichsam aus dem Fenster spucken. Man weiss nicht, wie es zugeht, die Lust kommt über einen, die Lust märchenhaft in der Stimmung des Schaffens zu erbeben, die Lust ein Vorwort zu schreiben, die Lust auf dies sanfte Säuseln des Nachthauchs.» [7]

In diesem Davor finden sich auch oft Hinweise auf das Hauptwerk. Beispielsweise kann im Vorwort eine Romanfigur eingeführt werden, oder eine Opern-Ouvertüre kann Melodieteile des Hauptstückes enthalten. Trotzdem besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen Vorangestelltem und Nachfolgendem: Mit dem Vorspann eines Filmes zum Beispiel soll dem Film etwas hinzugefügt werden, etwa eine zusätzliche Botschaft. Diese Botschaft kann auch eine Aussage des Künstlers oder der Künstlerin über das Kunstwerk selbst enthalten.

Nicht nur das Davor des Senders, sondern auch jenes des Empfängers bestimmt die Wirkung eines Werks. In der Kunst beeinflusst das Vorwissen der Betrachtenden deren Wahrnehmung eines Kunstwerks. Dieses Vorwissen besteht zum Beispiel aus Informationen über KünstlerIn und Kontext, oder darüber, wie das Kunstwerk interpretiert werden kann. Aber auch alle anderen Erinnerungen der Betrachtenden haben einen Einfluss darauf, wie das Kunstwerk auf sie wirkt.

Doch vor allem ist das Gedächtnis notwendig für die Antizipation: Nur durch unsere Erfahrungen können wir einschätzen, welches Ereignis in Zukunft eintreten könnte und wie sich dieses anfühlen wird [9]. Statt ein unbeschriebenes Blatt zu sein, tragen wir viele beschriebene Seiten mit Erfahrungen aus dem Davor in uns – und die beeinflussen, wie wir Neues im Danach wahrnehmen.

Die Kosaken und der Ukrainekonflikt

Solche Erfahrungen können sich auch auf politische Konflikte auswirken. Die Sommerakademie wurde mit einem spannenden Vortrag vom ukrainischen Literaturwissenschaftler Roman Dubasevych abgeschlossen, in dem er das kulturelle Vorfeld zum aktuellen Ukrainekonflikt aufzeigte. Er erzählte viel über einen Heldenmythos, der sowohl die Ukraine als auch Russland geprägt hat: Der Mythos der unbeugsamen Kosaken. Diese kriegerischen Reitertruppen lebten in beiden Nationen und werden für ihre Tapferkeit und Furchtlosigkeit gerühmt.

Die kosakische Vorgeschichte hat Nachwirkungen auf den aktuellen Konflikt. Die Identifikation der Ukraine mit den heldenhaften Kosaken könnte teilweise erklären, wieso sie sich jetzt so entschlossen und unnachgiebig gegen Russland wehrt. Und auch Putins Argumentation für seinen Einmarsch stützt sich auf vergangene Taten des Reitervolks: Einige Kosakengruppen und ukrainische Städte leisteten 1654 dem russischen Zaren einen Treueeid, um gemeinsam gegen das polnisch-litauische Reich zu kämpfen. Dieses Abkommen von Perejaslaw sieht Putin heute noch als Beweis für die damalige Vereinigung von Russland und der Ukraine zu «einem Volk». Allerdings wird infrage gestellt, wie langfristig das Abkommen gedacht war – die Kosaken galten als unabhängiges Volk, das seine Verbündeten je nach Situation wechselte.

Dieser interessante Einblick in das kultur-historische Vorfeld des Ukrainekonfliktes rundete das Programm der Sommerakademie ab. Denn das Beispiel des kosakischen Heldenmythos zeigte, wie wichtig das Wissen um das Davor für das Verständnis des Danachs ist.

Im Verlauf der Sommerakademie wurde mir bewusst, wie allgegenwärtig der Zustand der Antizipation ist. Was die Evolution dem Menschen als Überlebensmechanismus mitgegeben hatte, ermöglicht jetzt seine im Tierreich einmalige Lebensweise und Denkfähigkeit. Ohne die Antizipation wüsste der Mensch nicht um die Konsequenzen seiner Handlungen; er würde all sein Geld sofort ausgeben, bei Rot über die Strasse gehen und nicht auf Wetterberichte hören. Aber die Antizipation ist eben nicht nur kalte Berechnung, sondern beinhaltet auch eine Spur von Unsicherheit; deshalb erzeugt sie ein bestimmtes Gefühl, eine Stimmung, die mit der Kunst ausgedrückt werden kann. Und dieses Gefühl im Davor kann einen grossen Einfluss darauf nehmen, wie das Danach wahrgenommen wird.

So ging es mir auch nach dem Ende der Sommerakademie: Die zuvor besprochenen Themen beschäftigten mich im Danach weiter und führten zu neuen Gedanken und Fragen zum Thema der Antizipation. So machte ich mich wieder auf dem Heimweg, traurig, dass diese wunderbare Woche doch so schnell verging und im Wissen, dass die Zeit der ständigen Wortwitze vor-bei war… Doch «nach der Sommerakademie» ist bekanntlich «vor der Sommerakademie» – die Vorfreude auf den nächsten Sommer ist gross!

Referenzen

[1]

van den Bos, R. (2019). Animal Anticipation: A Perspective. Poli R. (eds) Handbook of Anticipation. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-319-91554-8_18

[2]

Gilbert, D. T., & Wilson, T.D. (2007). Prospection: Experiencing the Future. SCIENCE, 317(5843), 1351-1354. https://doi.org/10.1126/science.1144161

[3]

Buckner, R. L., & Carroll, D. C. (2007). Self-projection and the brain. Trends in Cognitive Sciences, 11(2), 49–57. https://doi.org/10.1016/j.tics.2006.11.004

[4]

Ebrahimian, H., Barmayoon, S., Mohammadi, M., & Ghadimi, N. (2018). The price prediction for the energy market based on a new method. Economic Research-Ekonomska Istraživanja, 31(1), 313–337. https://doi.org/10.1080/1331677x.2018.1429291

[5]

Ahir, H., & Loungani, P. (2014). ‘There Will Be Growth in the Spring’: How Well Do Economists Predict Turning Points?”. VoxEU. https://voxeu.org/article/predicting-economic-turning-points

[6]

Obermaier, M., Koch, T., & Baden, C. (2017). Everybody Follows the Crowd?: Effects of Opinion Polls and Past Election Results on Electoral Preferences. Journal of Media Psychology, 29(2), 1-12. https://doi.org/10.1027/1864-1105/a000160

[7]

Kierkegaard, S. (1991). Der Begriff Angst, Vorworte (Übersetzt von E. Hirsch; 3. Aufl.). Gütersloher Verlagshaus Mohn. (Originalwerk 1965 veröffentlich)

[8]

Hutchinson, J. B., & Turk-Browne, N. B. (2012). Memory-guided attention: control from multiple memory systems. Trends in Cognitive Sciences, 16(12), 576–579. https://doi.org/10.1016/j.tics.2012.10.003

[9]

Schacter, D., Addis, D. & Buckner, R. (2007). Remembering the past to imagine the future: the prospective brain. Nature Reviews Neuroscience, 8, 657–661. https://doi.org/10.1038/nrn2213

Der vorliegende Beitrag entstand im Rahmen der Sommerakademie «Davor - Ästhetik des Antizipatorischen» der Schweizerischen Studienstiftung und wurde redaktionell begleitet von Reatch. Den Originalbeitrag gibt es hier.

Autor*innen

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Lea Bächlin schreibt gerne über gesellschaftliche und naturwissenschaftliche Themen. Hauptberuflich studiert sie Psychologie mit Schwerpunkt Neurowissenschaften an der Universität Zürich.

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