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Schweizer Bautrends und Gegenströmungen: Modernismus oder Rückkehr zum traditionellen Bau?

Die Schweiz wächst schnell und es wird viel gebaut. In welche Richtung sich die Schweizer Baulandschaft entwickelt, ist noch ungewiss. Gewisse Tendenzen sind erkennbar – doch nicht alle teilen dieselben Bauvisionen.

Unklare Bautrends in der Schweiz

Mit dem aktuellen Bevölkerungswachstum wird die Schweiz bis 2050 eine Bevölkerung von ca. 10'440'000 haben.[1] Über zehn Millionen Menschen also, welche eine Unterkunft brauchen. Das Bedürfnis nach Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden wird indessen gestillt, indem zügig gebaut wird, ohne einem eindeutigen Schema zu folgen – weder architektonisch, noch in der Raumplanung.

In der Schweiz herrscht eine neuartige Strategie des verdichteten Bauens in einer ansonsten liberalen Baukultur. Mit dem vom Bundesrat 2012 herausgegebenen Raumkonzept Schweiz sollte ein Leitfaden für die zukünftige Baulandschaft geschaffen werden, wobei das Konzept die «polyzentrische Raumentwicklung» fördern, eine «qualitätsvolle Verdichtung» garantieren sowie die Verknüpfung von Verkehr, Energie und Raumentwicklung stärken solle.[2] Im Prinzip sollten also dichte Städte gebaut werden, welche vielen Menschen auf wenig Platz ein Zuhause garantieren. Dadurch wird mehr Landschaft naturbelassen und Energie an einem Ort gebündelt. Um indessen von einem zum anderen Ort zu gelangen, sollten die Städte der Zukunft von öffentlichen Verkehrsmitteln durchzogen werden und untereinander verbunden sein. Der gesetzliche Rahmen wurde u.a. durch die Revisionen des Raumplanungsgesetzes geschaffen; ein Bundesgesetz, welches durch Regelungen der Kantone und Gemeinden umgesetzt werden sollte.[3]

Während der Bundesrat einen Leitfaden bereitstellt und die Gesetzeslage klar ist, scheint es bei der Umsetzung zu holpern. Noch bis 2023 bestand die Mehrheit aller «reinen Wohngebäude» (84.3% der Gebäude, welche nur fürs Wohnen genutzt werden) aus Einfamilienhäusern (56.7%). Lediglich 27.6% waren Mehrfamilienhäuser. Im Vergleich zu 1990 ist dies ein Wachstum von 2.9% an Einfamilienhäuser sowie 2.1% für Mehrfamilienhäuser – wobei seit 2010 ein Negativwachstum von knapp -0.8% an Einfamilienhäuser zu verzeichnen ist.[4] Die nur schwache Abnahme an Einfamilienhäusern bzw. das langfristige Wachstum widerspricht somit den Bestrebungen des Bundes, zu verdichten. So stehen auch die meisten Mehrfamiliengebäude mit fünf bis neun oder gar über zehn Stockwerken in den Kantonen Basel-Stadt, Genf, Zürich und Zug. All diese Kantone sind einerseits sehr urban, andererseits erleben sie seit 1980 einen andauernden Bauboom. Den grössten Bauboom machte indessen der Kanton Freiburg zwischen 2001 und 2022 durch – jener Kanton, welcher inzwischen die meisten Gebäude mit nur einem Stockwerk hat.[5] Ob mit diesen Entwicklungen effiziente Verdichtung möglich ist, ist fragwürdig.

Modernismus dominiert die Architektur

Bei den 39% der Gebäude, welche seit 1980 gebaut wurden, lässt sich aber mindestens ein gemeinsamer architektonischer Trend erkennen. Denn vom Baustil her bilden die Bauten diverse Untergruppen des Modernismus ab. Diese Strömung fand bis in die 1970er-Jahre Verbreitung und dient immer noch als Grundlage der zeitgenössischen Architektur. Für modernes verdichtetes Bauten bedeutet das vor allem karge und monochrome Fassaden (oftmals Sichtbeton), viele Ecken und scharfe Kanten, kastenähnliche Fenster und wenig grün.[6]

Solche modernistische Beispiele lassen sich überall finden, egal ob bei Privathäusern oder im öffentlichen Raum: Die Europaallee Zürich, die Jupiterstrasse Bern, der Bahnhof Luzern, das Kongresshaus Biel, das Mudac in Lausanne.[7] Die Wurzeln dieses Modernismus reichen bis an den Anfang des letzten Jahrhunderts zurück, als nach dem Ersten Weltkrieg eine Zäsur in der Architekturszene stattfand. Inspiriert von der Veränderung in der Kunstszene, welche auch den Kubismus hervorbrachte, und in Kombination mit neu entdeckten Baumethoden – Stahlbeton, Stahlträger und grosse Fenster, welche neue Designs erlaubten – nahmen einerseits die deutsche Bauhausschule, andererseits auch der Schweizer Architekt Le Corbusier drastische Änderungen in der Baulandschaft vor.[8] Während die Bauhausschule mit ihrem «Form Follows Function-Prinzip» einige Meisterwerke der Moderne schuf, waren andere Pläne auf die Zerstörung der traditionellen Architektur ausgelegt, beispielsweise Corbusiers dystopischer «Plan für Paris».

Inzwischen haben sich die modernistischen Strömungen zu einem Standardprodukt entwickelt. Vor allem aufgrund der Zerstörung von historischen Grossstädten während des Zweiten Weltkriegs und wegen der Bestrebungen, den daraus entstandenen Wohnungsverlust mit neuartigen Plattenbauten schnellstmöglich zu kompensieren, entwickelte sich die modernistische Welle zu einem gesamteuropäischen Phänomen. Die Schweiz zog mit. Anders zu bauen ist heutzutage kaum vorstellbar.


Back to the roots in der Architektur

Hier setzt ein Grassroots-Movement an, welches in den letzten Jahren vor allem in der digitalen Welt an Bekanntheit gewann. Die Idee des Architectural Uprising, bzw. der New Traditional Architecture (kurz, «New Trad») stammt ursprünglich aus Skandinavien.[9] Das Ziel der Bewegung ist schnell formuliert: Es soll wieder «schön» gebaut werden. Der Begriff der «Schönheit» orientiert sich hierbei an verschiedenen Punkten.  Die «Form» solle nicht einfach blind der «Function» folgen, sondern zusammen gedacht werden, beispielsweise mit Schräg- anstatt Flachdächern, welche für die europäische Klimazone geeigneter sind. Ebenso solle nicht auf Ornamente verzichtet werden, wie es im Modernismus postuliert wird. Anstatt grauer und spröde-werdender Sichtbeton sollen Ziegelsteine, Sandsteine, Holz und ähnliches für den Hausbau genutzt werden, wodurch die neuen Gebäude einen klassischen Charme erlangen. Die Architektur solle wieder mit dem genus loci verbunden sein und zu dessen Charakter beitragen, anstatt ein raumunabhängiges Standardprodukt zu sein, welches an jedem beliebigen Ort stehen könnte.[10]

Doch nicht nur die reine Architektur der Gebäude, sprich deren Fassade und das Interieur, sind Punkte auf der Agenda der Grassroots-Movement. Viel mehr wird auch auf Umdenken bei der Stadtplanung Wert gelegt. Die meisten Entwürfe, welche von Gruppierungen des Architectural Uprising veröffentlicht wurden, stellen urbane Quartiere von Mehrfamilien- oder Reihenhäuser dar, was eine effiziente (oder eben «qualitätsvolle») Verdichtung bedeute. Zudem werden verkehrsfreie Zonen gefordert, Begegnungsräume vorgeschlagen und von Durchmischung von Wohn-, Arbeits- und Freizeitquartieren geschwärmt. Dadurch sollen nicht nur schönere Gebäude entstehen, sondern schönere Quartiere, gar schönere Städte.[11]

Ihre Positionen begründen die Mitglieder des Architectural Uprising mit zweierlei Argumenten. Einerseits wird auf die jahrtausendealte Philosophie und Geschichte hinter der Architektur verwiesen, welche durchaus klare Regeln dafür kannte, was «schön» sei. Angefangen wird bei Vitruv (1. Jh. v. Chr.), der Übergang gefunden zu Palladio (1508-1580) und das Ende bei Le Corbusier erkannt, welcher sich – wie in seinen Essays erkenntlich – durchaus mit den klassischen Prinzipien auskannte, diese jedoch zerschlagen wollte.[12] Andererseits wird auf eine Vielzahl von Studien und Untersuchungen verwiesen, welche Auskunft über das Schönheitsbild einer ganzen Gesellschaft geben sollen. Die Resultate fallen eindeutig aus: So werden für «Governmental Buildings» unabhängig von Einkommen, Ethnie, Alter oder Bildungsgrad immer klassische gegenüber modernistischen Designs bevorzugt.[13] Zum selben Resultat kommt man, wenn es sich beim Untersuchungsgegenstand um Privathäuser an kleinen Wohnstrassen handelt.[14]

Am interessantesten ist wohl aber eine Studie von David Halpern aus dem Jahre 1987, welche auf den sogenannten «Design Disconnect» hinweisen möchte. Den Einzelpersonen einer Gruppe von (angehenden) Architektinnen und Architekten und einer Referenzgruppe von Menschen mit verschiedensten Hintergründen wurden vorerst diverse Fotografien von Personen gezeigt, welche sie nach Attraktivität einordnen sollten. Danach mussten beide Gruppen Bilder von Gebäuden nach persönlichem Schönheitsempfinden einordnen. Das Resultat war erstaunlich: Während die beiden Gruppen bei den Portraits von Menschen die Bilder auf einer Skala von «wenig attraktiv» bis «sehr attraktiv» quasi gleich eingeordnet hatten, unterschieden sich die architektonischen Laien von denen, welche an einer Architekturschule eine Ausbildung durchliefen, puncto Schönheit der Gebäude. Das bei den Laien als am schönsten gedeutete Gebäude wurde von der anderen Gruppe als das hässlichste gedeutet – und umgekehrt. Signifikant: Desto länger die Individuen aus der Expertengruppe in Architekturschulen ausgebildet waren, umso krasser unterschied sich deren Schönheitsvorstellung von derjenigen der Laiengruppe. Die Architektinnen und Architekten waren von der durchschnittlichen Gesellschaft «disconnected», und das scheinbar korrelierend mit ihrer Ausbildung.[15]


Kritik, Konter und die Zukunft der Schweiz

Wie beim «Design Disconnect» stammt auch die grösste Kritik an der New Trad-Bewegung aus dem Kreis der Architektur. So seien Rückgriffe auf klassische Prinzipien sowie das Bauen von bewährten Strukturen nicht originell genug. Viele betrachten die Bewegung als Kitsch.[16] Andere sehen in der Bewegung eine konservative Strömung, welche durch die Architektur veraltete oder rechte bis rechtsextreme Werte vertrete.[17] Weitere Kritik bezieht sich ausserdem auf die Kosten,[18] welche durch solche Bauunternehmungen scheinbar entstünden, oder aber dass dadurch eine Gentrifizierung stattfinden würde, wodurch sich die breite Bevölkerung dieses «New Trad» Wohnen nicht einmal leisten könnte.

Vonseiten der New Trad-Bewegung wird die Kritik zurückgewiesen, indem auf schon realisierte Projekte verwiesen wird. Paradebeispiel ist Le Plessis-Robinson, ein Vorort von Paris, welcher sich durch eine Herkulesarbeit von einer von Plattenbauten dominierten Banlieue zu einem idyllischen Städtchen entwickelt habe, wobei ein stattlicher Anteil der entstandenen Wohnungen Genossenschaftswohnungen für Wenigverdienende sei.[19] Poundbury gilt als das englische Pendent hierzu. Unter Leitung von damals noch Prince Charles entstand in Dorset eine Siedlung, welche sowohl ästhetisch wie auch nachhaltig sein sollte. Basierend auf Charles’ Prinzipien aus seinem Buch «A Vision for Britain» wurden für den Bau lokale Arbeitskräfte und Materialien verwendet. Eine kurze Lebensdauer aufgrund von Zerfall sollte somit verhindert werden, wodurch sich der Bau nicht nur ökologisch, sondern auch finanziell lohnt.[20]

Zurück in die Schweiz, wo die Bewegung des Architectural Uprising erst zögerlich Fuss fasst. Durchaus gibt es einige Bauten und Ideen, welche vom Architectural Uprising begrüsst werden könnten. Doch in einer schon uneinheitlichen und liberalen Baulandschaft mit einer grossen Nachfrage nach schnell fertiggestellten Wohnhäusern ist eine Umsetzung der «New Trad» Agenda schwierig. Was es für einen Erfolg der Bewegung also dringend bräuchte, wäre – wie überall – ein kollektives Umdenken und eine grosse Anzahl engagierter Leute, welche der Vision nachstreben. Es bleibt offen, wohin sich die Schweiz entwickeln will.

Referenzen

[1]

Sektion Demografie und Migration: Bevölkerungsentwicklung Schweiz, Bundesamt für Statistik (BFS), o.D., https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bevoelkerung/zukuenftige-entwicklung/schweiz-szenarien.html. Stand: 10.11.2024.

[2]

Schweizerischer Bundesrat et al.: Raumkonzept Schweiz. Bern, 2012. S. 5.

[3]

Abteilung Raumentwicklung und Raumplanung: Revision des Raumplanungsgesetzes (RPG), Bundesamt für Raumentwicklung (ARE), o.D., https://www.are.admin.ch/are/de/home/raumentwicklung-und-raumplanung/raumplanungsrecht/revision-des-raumplanungsgesetzes--rpg-.html. Stand: 10.11.2024.

[4]

Sektion Bevölkerung: Gebäudekategorien, BFS, o.D., https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/kategorie.html. Stand: 31.08.2024.

[5]

Sektion Bevölkerung: Gebäudegrösse, BFS, o.D., https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/groesse.html. Stand: 31.08.2024; Ebd.: Gebäude Bauperiode, o.D., https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bau-wohnungswesen/gebaeude/periode.html. Stand: 31.08.2024.

[6]

Meyer, Daniela: So geht verdichtetes Bauen. In: Sonntagszeitung, 07.06.2020. Online u.a.: https://www.tagesanzeiger.ch/so-geht-verdichtetes-bauen-602882158255. Stand: 31.08.2024.

[7]

o.A.: Architektur. Moderne bauten, Switzerland Tourism, 2024, https://www.myswitzerland.com/de-ch/erlebnisse/staedte-kultur/architektur/architektur-suche/moderne_bauten/. Stand: 31.08.2024.

[8]

Koch, Wilfried: Baustilkunde. Das Standardwerk zur europäischen Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart, München 201432; Le Corbusier: Vers une Architecture. Paris 1923.

[9]

Olsson, Peter: The Architectural Uprising, 2024, https://www.architecturaluprising.com. Stand: 31.08.2024.

[10]

The Aesthetic City: Architecture Schools are Broken – But A Renaissance Is Coming. 23:30min, YouTube, 30.06.2024. Online: https://www.youtube.com/watch?v=syQMTZyzqcg. Stand: 31.08.2024.

[11]

Plater-Zyberk, Elizabeth: Traditional Architecture & Urbanism (Vortrag im Rahmen der Konferenz «Enduring Places»), 04.11.2023, Online: https://www.classicist.org/articles/enduring-places-traditional-architecture-urbanism/. Stand: 31.08.2024.

[12]

Le Corbusier: Architecture.

[13]

National Civic Art Society; The Harris Poll: Americans’ Preferred Architecture for Federal Buildings- Washington D.C. 2020. Online: https://www.civicart.org/americans-preferred-architecture-for-federal-buildings. Stand: 31.08.2024.

[14]

Create Streets: Pop Up Poll Results. o.O. 2014. Online: http://www.createstreets.com/wp-content/uploads/2017/09/Create-Streets-Pop-up-poll-1.pdf. Stand: 31.08.2024.

[15]

Contreras Chávez, Francisco; Milner, David: Architecture for Architects? Is there a “Design Disconnect” between most architects and the rest of the non-specialist population? In: New Design Ideas 3 (1), 2019, S. 32-43. Online: https://www.createstreets.com/wp-content/uploads/2019/09/Architecture-for-Architects-Milner-Salingaros.pdf. Stand: 31.08.2024.

[16]

Bürgi, Marc: «Die Architekturelite und Planer haben Angst vor Kitsch». In: Handelszeitung, 16.12.2019, Online: https://www.handelszeitung.ch/panorama/immobilienexperte-die-architekturelite-hat-angst-vor-kitsch-270065. Stand: 31.08.2024.

[17]

O'Brien, Hettie: How classical architecture became a weapon for the far right. In: The New Statesman, 21.11.2018. Online: https://www.newstatesman.com/politics/2018/11/how-classical-architecture-became-weapon-far-right. Stand: 31.08.2024; Bevan, Robert: The ugly pursuit of beauty: how traditional architecture has become a battleground for right-wing politicians. In: The Art Newspaper, 07.01.2022. Online: https://www.theartnewspaper.com/2022/01/07/the-traditionalist-lunatics-have-taken-over-the-asylum. Stand: 31.08.2024.

[18]

Olsson, Peter: Can We Afford More Modernist Buildings?, The Architectural Uprising, 12.12.2023. https://www.architecturaluprising.com/studies/can-we-really-afford-more-modernist-buildings/. Stand: 31.08.2024.

[19]

Siegel, Charles: Le Plessis-Robinson. A Model for Smart Growth, Planetizen, 16.07.2012. https://www.planetizen.com/node/57600. Stand: 31.08.2024.

[20]

Pentreath, Ben: How the Poundbury project became a model for innovation. In: Financial Times, 01.11.2013, Online: https://www.ft.com/content/94e6c310-3c8f-11e3-a8c4-00144feab7de. Stand: 31.08.2024.

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